Das Vermissen von einem Gott als überflüssiges Gefühl

«Ich glaube nicht an Gott, aber ich vermisse ihn»: Beim 6. «Bund»-Essaywettbewerb wurden 221 eingereicht, darunter auch welche von FVS-Mitgliedern. Wir drucken den Beitrag unseres Berner Mitglieds Roset ab, der unter den ersten 30 rangierte.*

Die Glaubensfrage hat nicht nur den Aspekt, ob sie neue Glaubensgrundsätze entwickeln soll, sondern auch den wie die Daseinsfrage - und um die geht es ja letztlich - auf ein dem heutigen Wissensstand genügendes Niveau gebracht werden kann. Mit diesem Essay möchte ich ein Modell vorbringen, welches einerseits die Existenz Gottes überflüssig macht und auch ein Vermissen von einem Gott als überflüssiges Gefühl aufdeckt, andererseits aber absolut das Potenzial zu Geborgenheitsgefühlen in sich trägt. Und das mit Argumenten, welche auf der Basis der modernen Wissenschaft fussen. Diese möchte ich eingangs darlegen:

Der Grund, warum wir mit der Frage nach einem vertrauensvollen säkularen Weltbild, welches die emotionalen Unsicherheiten unserer existenziellen Wahrnehmungen aufheben könnte, nicht weiterkommen, hat seine Ursache im schwer vermittelbaren Stoff der modernen Naturwissenschaften. Zu diesen gehören insbesondere die Kosmologie und die Quantenphysik. Aber auch mathematische Modelle wie die Stringstheorie und die M-Theorie sind Anwärter zur Klärung dieser Frage. Sie alle ermöglichen ein philosophisches Modell, mit dem wir die Gottesfrage,genauer die Frage, ob es einen Gott zur Schöpfung der Welt braucht oder nicht, mit sehr einleuchtenden Fakten lösen können.

Das grösste Rätsel ist ja, ob die Natur eine bewusste Schöpfung braucht oder ob sie sich selbst bewirken kann. Vom anthropozentrischen Standpunkt aus betrachtet ist die Vorstellung, dass die Natur in sich selbst gewachsen ist, für viele eine Unmöglichkeit. Alle antiken Philosophen, welche solches postulierten, wurden kaum beachtet. Die Weltanschauung aber, die unsere Existenz mit einer bewussten Schöpfung begründet, führte zur Aufteilung der Natur in einen materiellen und einen geistigen Bereich mit verheerenden Folgen für die Handlungen der Menschen. Das führte dazu, dass der Mensch sein Bewusstsein mit diesem Geist der bewussten Schöpfung identifizierte und sich so als Ebenbild einer bewussten Gottheit verstand.

All die Leiden, welche diese sich auf Spaltung aufbauende Weltanschauung für andere Wesen unseres Planeten sowie für Andersdenkende verursachte und teilweise noch verursacht, brauche ich nicht aufzuzählen.

Interessant an den geschichtlichen Fakten ist, dass die alten Griechen, die unser europäisches Weltbild besonders prägten, die Wahl hatten zwischen Leukipp, Demokrit und Anaximander (und anderen), welche die Existenz einer Götterwelt bezweifelten,und Platon sowie Aristoteles, welcher mit der Kreation des „Nous“ die bewusste Wirkung eines Geistes postulierten. Die Griechen sowie ihre Nachfolger wählten das Letztere für ihre Weltwahrnehmung. Wahrscheinlich gab es aber schon immer Realisten, die die Illusion der bewussten Schöpfung durchschauten. Ihr Nachteil war nur, dass sie keine Beweise dafür liefern konnten.

Heute liegt die Beweisführung günstiger, weil die eingangs erwähnten Wissenschaften zu dieser philosophischen Frage einiges an Erkenntnisgewinn beitragen können. Im Vordergrund steht die Entdeckung, dass Materie aus Energie besteht. Das bedeutet, die Materie nicht von anderen dem Geistigen zugeordneten Phänomenen der Natur getrennt ist, sondern aus der gleichen Wirksubstanz bersteht.

Die modernen Naturwissenschaften sind in der Lage, experimentell diesen Sachverhalt soweit zu beweisen, dass wir die dabei gültigen experimentellen Kriterien als wissenschaftlich anerkennen. Das erwähne ich, weil bezüglich der Beweisbarkeit unserer Welt eine Relativität festgestellt werden kann, die eine letzte absolute Beweisbarkeit als unmöglich erscheinen lässt. Das begünstigt die beliebige Auslegung auch experimentell gesicherter Erkenntnis.

Gehen wir aber davon aus, dass die Naturwissenschaften ein hohes Mass an einleuchtenden Argumenten präsentieren, so lässt sich heute sehr wohl ein Naturbild konstruieren, das ohne eine bewusste Schöpfung auskommt. Zweifellos begibt sich ein solches Weltbild ebenfalls in den spekulativen Bereich. Also weist es auf den ersten Blick die gleiche Qualität wie Religionen aus, ist aber im Vergleich zu den Religionen sehr unterschiedlich, weil es von feststellbaren Fakten ausgeht und nicht mit irgendeiner, aus dem Nichtwissen geborenen These aufwartet.

Der kritische, um Objektivität bemühte Beobachter kann also diesbezüglich zwischen mindestens zwei Naturtheorien wählen: eine, die sich auf nicht sinnlich Wahrnehmbarem gründet, oder eine, die ein durch sichtbare Fakten belegtes Weltbild beschreibt.

Wie sieht nun ein von der Naturwissenschaft abgeleitetes mögliches Modell zur Beschreibung der Naturentstehung aus? Dazu muss man bei den gesicherten Fakten beginnen, welche in der Quantenmechanik zu finden sind. Bei Experimenten, welche z.B. im CERN in Genf gemacht werden, ist zu beobachten, wie sich Elementarteilchen beim Zusammenprall in andere Energieformen umwandeln, um sich dann oft wieder in ein anderes Teilchen zu wandeln. Ich versuche hier bewusst alle die komplexen Umstände eines solchen Prozesses zu umgehen, weil für die Gottesfrage ohnehin nur die daraus zu machenden philosophischen Schlüsse wesentlich sind. Das Wesentliche dabei ist, dass man bei diesen Experimenten sieht, dass Materie nichts anderes als verdichtete Energie ist. Es ist also kein Unterschied zu dem ersichtlich ist, was wir bei anderen nicht greifbaren Phänomenen, wie geistigen Interaktionen etc. feststellen können.

Gehen wir vom Ursprung des Weltalls als Singularität, welche sich im Urknall auflöste, aus, so ergibt das ein Bild von enorm grosser Energie, also Hitze, welche sich durch Abkühlung in die uns bekannten verschiedenen Elementarteilchen verfestigt. Auch hier eine simple Schilderung, welche aber genügt, um diesen Prozess bildlich zu machen. Es zeigt sich also, dass in unserem Weltall nichts anderes sein kann als eben diese Energie, welche sich beim Urknall freisetzte. Sämtliche energetischen Interaktionen, wie der Elektromagnetismus und die Gravitation, sind folglich aus dieser Substanz.

Wir können also keinen einzigen Gedanken entwickeln ohne diese Urkraft. Das provoziert natürlich die Vertreter von Weltbildern, die immer noch von einer nicht in der Natur existierenden Kraft ausgehen. Also von einem Geist, der ausserhalb der Naturprozesse wirkt und auf die uns bekannte Natur einwirken kann. Vertreter solcher Theorien vergessen ganz einfach, dass selbst dieser Geist, sollte es ihn in dieser Form geben, mit nichts anderem als Energie Einfluss nehmen könnte, ja, er selbst bestünde aus Energie.

Somit ist er nicht vom normalen Naturgeschehen abgetrennt.

Wo kommt aber die Energie her, welche die Singularität als Punkt unendlich verdichteter Energie bewirkt hat? Das kann offenbar mit den Mitteln der heutigen Naturwissenschaft nicht mehr evident beantwortet werden. Somit kommt man in den Bereich vorläufiger Spekulation, die aber nur von den Kriterien gesicherten Wissens ausgehen darf und sich damit von spirituellen Deutungen unterscheidet: Fest steht, dass alles, was wir wahrnehmen, aus Energie besteht. Also muss die Singularität durch Energie gespeist worden sein. Diese Energie muss folglich von irgendwoher stammen. Vorläufig lösen die Kosmologen dieses Problem, indem sie diesen Teil des Ursprungs ins Nichts versetzen. Doch was könnte im Nichts so viel Energie haben? Hugh Everett, Andrej Linde und andere Forscher, postulieren dazu so etwas wie ein Omniversum, das noch andere Weltalle erzeugen kann. Das bedeutet aber, dass auch für diese Weltalle Energie vorhanden sein muss. Folglich kommt man zum Schluss, dass dieses Omniversum diese Energie beinhaltet, welche durch Verdichtung zu unzähligen Singularitäten führen kann. Die Natur kann aufgrund dieser Eigenschaften der Energie völlig autonom Vorbedingungen zur Entstehung von Weltallen schaffen. Bei diesem Modell, das sich an der Naturwissenschaft orientiert, braucht es keinen bewussten Schöpfer.

Somit ist der bewusste Schöpfer nur noch ein Gedanke aus der Zeit, welche solches Wissen noch nicht mit wissenschaftlichen Modellen, auf der Basis von experimenteller Verifizierung, entwickeln konnte. Objektiv betrachtet ist aber ein bewusster Schöpfer mit einem solchen Modell noch nicht ganz widerlegt. Es könnte nämlich sein, dass sich aus den Energien des Omniversums eine Verdichtung entwickelte, welche eben gerade die Eigenschaften erreichte, welche eine Wesenhaftigkeit ausmachen, die wir unter Gott verstehen. Das würde aber bedeuten, dass so ein Gott nicht Ursprung aller Dinge ist, sondern eine der Folgen von energetischen Prozesse im Omniversum. Er wäre also eine Sekundärerscheinung, welche z.B. bei völliger Auflösung der Energie auch wieder verschwinden würde. Dieser so entstandene Gott würde nun auf die Idee kommen, eine Welt mit Menschen zu schaffen. Dazu könnte er sich nur der im Omniversum vorhanden Energie bedienen und das bewirken, was die Natur ohnehin schon erwirken kann. Er wäre insofern ein Plagiator.

Woher aber stammt nun die Energie im Omniversum? Das Nichts oder auch das Vakuum, das real auch in unserem Weltall festzustellen ist, hilft bei der Beantwortung dieser Frage. Es ist also nichts ungewöhnliches, wenn man den Ursprung des Omniversums in einem Nichts oder im Vakuum annimmt. Wie beim Vakuum in unserem Weltall käme es auch da zu Fluktuationen, die sich zu grösseren Energieeinheiten verbinden und so die Basisenergie bilden würden, die für alle späteren Prozesse nötig ist. Vielleicht sind diese ersten Fluktuationen die Urform der verdichteten Schwingungen, welche die Physiker als Strings vermuten. Das ist vorläufig überhaupt nicht wissenschaftlich zu belegen. Aber man muss bedenken, dass dieses Modell ein viel realeres Fundament hat als jegliche religiöse Gottesvorstellung, die eine bewusste Instanz zum Ursprung allen Seins postuliert.

Dass im Nichts oder Vakuum etwas in der Art geschehen sein musste, ist nur mit der Tatsache zu belegen, dass wir etwas Seiendes feststellen können. Das Vakuum selbst zeigt, aufgrund der Beobachtungen in unserem Weltall, offenbar die Neigung zu Fluktuationen. Dieses Modell legt dar, dass wir, aber auch das, was wir als Geist bezeichnen, eine Folge von energetischen Prozessen sind, die mit dem Urknall die Bedingungen für unser Entstehen schafften. Da der Urknall auf die Energien des Omniversums zurückzuführen ist, sind wir folglich Teil dieses Omniversums. Das heisst: Wir kommen aus dem Omniversum und gehen in Milliarden von Jahren wieder dahin zurück. Dies mag im ersten Moment eine ziemlich deprimierende Feststellung sein.

Dieser Eindruck verflüchtigt sich aber, sobald man realisiert, dass wir in diesem Modell immer das Gleiche bleiben: eine in einer bestimmten energetischen Form existierende Variante dieser Urdynamik, welche sich durch natürliche Prozesse in verschiedene Formen verändern kann. Unsere Entstehung und die der ganzen Natur war ein natürlicher Vorgang und bedurfte keiner aussernatürlichen Kräfte. In diesem Weltbild gibt es keine Trennung mehr zwischen den einzelnen wahrnehmbaren existenziellen Erscheinungsformen. Damit werden alle die Erlösungsbotschaften mit Paradiesen und Ähnlichem, überflüssig weil wir nämlich nie etwas verlassen haben, wohin wir zurückkehren müssen, sondern wir bleiben immer das Gleiche in verschiedener energetischer Form. Wir sind also immer das Omniversum und verlassen somit nichts und müssen auch nicht in etwas zurück, weil wir nie etwas verlassen haben. Das ewige Leben, als Inbegriff bewussten Wahrnehmens, muss dabei nur noch begrifflich mit dem des ewigen Sein definiert werden, um mit den energetischen Gegebenheiten übereinzustimmen. Wenn das kein Grund zu Geborgenheit ist !

Wem dieses Modell einleuchtet, kann es weiterverfolgen und durch einschlägige wissenschaftliche Literatur selbst auf seinen Gehalt überprüfen.

Abschliessend lässt sich bei diesem Modell feststellen, dass wir Gott, oder den Bezug auf das uns Bewirkende überhaupt nicht vermissen müssen, weil wir als energetische Variation des Omniversums selbst das sind, woraus wir geschaffen sind: dieselbe Energie welche von Anfang an sich zu formen begann. Auch das ist ein Wissen, das man seit Urzeiten kennt, kann man es heute aber mit einem logischen naturwissenschaftlichen Aufbau bergründen.

Roset

 

C.V. Roset:

Hochschule München. Akademie der bildenden Künste. Diplomabschluss Beschäftige mich seit Jahrzehnten mit der möglichen philosophischen Konsequenz auf das Wahrnehmungsbild unserer Existenz durch die Erkenntnisse der modernen Naturwissenschaften, insbesondere der Quantenphysik. Thematisiere die Erkenntnisse insbesondere in meiner Malerei, aber auch in Publikationen.

*Publiziert in frei denken. 2/2012

Mehr zum Autor: http://www.roset.ch/