Schulbuch "Blickpunkt": Note ungenügend

Seit Mai ist es nun verfügbar, das erste Schulbuch aus der Blickpunkte-Serie zum Zürcher Schulfach «Religion und Kultur». Das Ergebnis ist ernüchternd. Optisch kommt es gefällig daher, das Unterstufenlehrmittel «Blickpunkt 1», welches der Lehrmittelverlag Zürich in Zusammenarbeit mit der Pädagogischen Hochschule Zürich entwickelte. Dazu tragen die Illustrationen von Julien Gründisch und Marion González wesentlich bei.

Ergänzt wird das Schülerbuch durch einen Arbeitsordner, einen Kommentarband für die Lehrpersonen, Materialien auf CD und zwei Postern, wovon das erste die fünf im Fach portraitierten Religionen in Schaukästen darstellt und das zweite mit einer etwas kruden Strassenszene aufzuzeigen versucht, dass religiöse Symbole im Alltag scheinbar allgegenwärtig sind.

Das Entdecken von religiösen Symbolen bildet denn auch den Einstieg, das erste Kapitel heisst entsprechend «Was ist das?». So wird unter anderem zwischen dem Wirtshausnamen «Sternen» und der Weihnachtsgeschichte eine Verbindung hergestellt und auch eine «Paradiesstrasse» wird bemüht, um das Durchdringen des Alltäglichen durch das Religiöse zu illustrieren. «Kinder», «Alltag», «Feste» und «Tiere» lauten die weiteren Kapitel.

Im Gegensatz zu frühen Entwürfen darf man dem Schülerbuch zubilligen, dass es über weite Strecken stufengerecht daherkommt, der Stoff also ans Alter der Schülerinnen und Schüler angepasst ist, vieles dadurch vereinfacht und verkürzt dargestellt wird, was aber bei einem Buch, das sich an Sieben- bis Neunjährige1 richtet, unumgänglich ist.

Verkürzend und einseitig

Die Verkürzungen und Weglassungen fallen allerdings systematisch einseitig aus. So wird im Schülerbuch zur Arche Noah-Geschichte lediglich ausgesagt, sie erzähle, «dass Noah ein grosses Schiff baute, um seine Familie und die Tiere zu retten». Wohl gibt es in den fakultativ zu verwendenden Klassenmaterialien eine ausführlichere Version der Genesis-Geschichte, in der wiedergegeben ist, dass Gott eine Flut über die Erde brachte, «um alles, was lebendig ist, zu verderben.»

Doch auch in den Lehrermaterialien wird nirgends dazu eingeladen, dies als Grundlage für eine Debatte über Ethik zu verwenden. Nein, es wird Lehrpersonen nicht einmal Hilfestallung angeboten, sollten verstörte Fragen von Kindern kommen – geradezu eine Einladung an die Lehrpersonen, das Zusatzblatt wegzulassen, um keine Diskussionen führen zu müssen, welche die Buchautoren nicht vorsahen. Den Lehrpersonen wird nur mitgeteilt, dass die Noah-Geschichte für alle drei Buchreligionen von grosser Bedeutung sei und es deshalb wichtig sei, dass die Kinder die wichtigsten Begriffe kennten und ihre heutigen Übertragungen verstünden. So wird beispielsweise festgehalten, dass die Arche mitunter von Naturschutzorganisationen als Symbol für Artenschutz verwendet wird oder auch zur Symbolisierung von Geborgenheit Verwendung finde.

Die Arche-Geschichte gehört sicherlich zu denjenigen Geschichten, die von Kirchen am häufigsten tradiert werden, es geht also selbstredend in Ordnung, dass sie auch im Blickpunt-Buch Eingang findet. Doch diese einseitige Darstellung, das bewusste Unterdrücken der Tatsache, dass die Geschichte gleichsam eine eines ungeheuerlichen – wenn auch glücklicherweise nur mythologischen – Genozids ist, zeigt, dass die Autoren nicht neutrale Religionskunde zum Ziel hatten.

Augenscheinlich wird die fehlende Ausgewogenheit bereits in der Einleitung zum Lehrerkommentar. Ganz zum Schluss wurde es um ein Unterkapitel angereichert, in dem dargelegt wird, welche Kompetenzen das Fach fördern solle. Zu Beginn heisst es dort:

«Um die Gesellschaft und die Welt besser zu verstehen, braucht es auch ein elementares Grundlagenwissen über Religion und Religionen. Der Aufbau dieses Grundwissens gehört zum allgemeinen Bildungsauftrag der Schule.»

Die Kinder sollen deshalb Begriffe und charakteristische Merkmale der grossen religiösen Traditionen kennen und einordnen können und wahrnehmen, «wo Religion in Kultur und Gesellschaft vorkommt». Und sie sollen erste Kenntnisse und Fähigkeiten erwerben, «um sich mit Menschen mit verschiedener Überzeugung und Weltanschauung, mit Menschen anderer Religionen und Kulturen verständigen und deren Lebens- und Werthaltungen respektieren zu können.»

Während zweier Jahre konnten die Macher trotz beständiger Nachfrage nicht beantworten, welche Kompetenzen mit dem Fach gefördert werden sollten. Der doch noch erfolgte Einschub mag auf den ersten Blick passend klingen, er entlarvt aber letztlich die vorgesehene Einseitigkeit.

Selbstredend ist es richtig, dass ein elementares Grundlagenwissen über Religionen zu einem besseren Weltverständnis verhilft. Doch ohne elementares Wissen über die Antike ist beispielsweise unser Rechts- oder unser Staatsverständnis auch nur teilweise zu begreifen. Solche Brücken zu anderen Quellen unserer heutigen Gesellschaft bleiben jedoch systematisch aussen vor. Man mag noch darauf hoffen, dass die noch in Entwicklung stehenden Materialien für die Mittel- und die Oberstufe hier etwas sachgerechter werden. Doch in einem entscheidenden Punkt ist das Aufschieben auf einen späteren Zeitpunkt und höhere Schulklassen nicht tolerierbar: Nirgends wird vermittelt, dass es heute eine Selbstverständlichkeit ist, dass in jeder Schulklasse etliche Kinder aus Familien kommen, die sich nicht an religiösen Wertvorstellungen orientieren.

Gleichbehandlung verletzt

Diese Kinder, egal ob sie aus dezidiert weltlich-humanistischischen Elternhäusern stammen oder aus solchen, bei denen die Religion einfach längst aus dem Alltag entschwunden ist, haben ein Anrecht darauf, als gleichwertig wahrgenommen zu werden. Doch die Blickpunktmaterialien bieten weder den Schülern namhafte Angebote, in denen sie sich und ihr Umfeld wieder erkennen, noch werden sie überhaupt als real existierende Gruppe der Bevölkerung erwähnt.

Wenn nur sie verpflichtet werden, sich in die Lebenswelt ihrer tatsächlich oder scheinbar religiösen Klassenkameraden reinzulesen, reinzufühlen und reinzudenken, bleibt zudem der angestrebte Kompetenzgewinn für die religiös geprägten Kinder auf der Strecke. Wohl kriegen diese teilweise mit, was andere Religionen an Gemeinsamen und Trennendem anzubieten haben. Doch nirgends müssen sie sich dazu Gedanken machen, woher gesellschaftliche Werte kommen und wie Kinder und Erwachsene, die sich nicht nach irgendwelchen Gottheiten richten, eigene Wertvorstellungen entwickeln.

Nichtreligiöse Kultur fristet ein Schattendasein

Wohl wurde auf Intervention der Freidenker der eine oder andere nichtreligiöse Brauch ins Lehrmittel aufgenommen, so ist nun beispielsweise das Sechseläuten aufgeführt, das als Zürcher Tradition tatsächlich viel eher zur Lebenswelt der Kinder gehört als so manches religiöse Beispiel, das im Buch vertieft wird. Völlig ausgeblendet wird allerdings der heidnische Bezug, dies ist auch bei den Materialien zur Fasnacht der Fall. Einzig beim Thema Ostern wird kurz die vorchristlichen Symbolik von Hasen und Eiern als Fruchtbarkeitssymbole erwähnt. Als nichtchristliche Feiertage werden Neujahr, der 1. Mai, der 1. August und das Geburtstagsfest erwähnt.

Nirgends aber wird dazu eingeladen, über die Bedeutung zu diskutieren, welche die Schülerinnen und Schülern ihnen persönlich beimessen. Auch hier wird also bewusst den Lebenswelten von nichtreligiösen Kindern kein wirklicher Raum gegeben. Nirgends wird aufgezeigt, dass die heutige Kultur nur zu einem kleinen Teil religiöse Bezüge herstellt, dabei würde einmal den Züritipp aufschlagen zur Beweisführung genügen. Die auch für die meisten Kinder im Alltag wirklich präsente nichtreligiöse Kultur, seien es traditionelle Märchen, sei es Harry Potter, seien es Disney-Figuren oder Computerspiele, die findet allesamt nicht statt.

Das Nichtreligiöse kommt also nur am Rande vor, dafür wird fast allem längst säkularisiertem ein religiöser Stempel aufgedrückt. So wird beispielsweise das Winterthurer Albanifest vorgestellt, das als grösstes im Jahresrhythmus stattfindendes Stadtfest Europas gilt. In den Materialien wird – durchaus richtigerweise – auf den Namensgeber hingewiesen, Alban aus England, einer der drei Stadtheiligen von Winterthur. Was aber nicht erzählt wird, ist, dass die Stadt das Albanifest nicht wirklich wegen Alban feiert sondern wegen Rudolf von Habsburg, welcher der Stadt ein ganzes Jahrtausend nach dem Tod Albans einen Freiheitsbrief verliehen hatte, am 22. Juni, dem Tag des St. Alban. Winterthur gedenkt also nicht in erster Linie einem christlichen Märtyrer sondern feiert wenn schon die gewährte Autonomie. Den allermeisten Besuchern dürfte aber sowohl der religiöse wie auch der weltliche Geschichtsbezug unbekannt sein – der verbreitete Wissensmangel beeinträchtigt die Festlaune allerdings bestimmt nicht. Doch auch davon ist im Buch natürlich keine Rede.

Grund fürs Scheitern

Führungsschwäche und personelle Fehlentscheide

Es liessen sich weitere Beispiele dieser gewollten Einseitigkeit aufführen, relevanter ist aber natürlich die Frage, wie es dazu kommen konnte. Die Ausgangslage war ursprünglich nicht grundverkehrt. Im November 2005 hatte der Zürcher Kantonsrat ein Postulat mit deutlichem Mehr überwiesen, welches die Einführung des Schulfachs «Religion und Kultur» forderte. In ihm sollten «Fragen nach ethischem Handeln und nach Werthaltungen zur Sprache kommen.» Die Initiantin Andrea Widmer-Graf (erst LdU, dann FDP, später SP) argumentierte:

«Ein obligatorisches Fach hat den grossen Vorteil, dass alle Kinder einbezogen werden. Auf diese Art kann das Fach einen wesentlichen Beitrag zur Integration und zu einem friedlichen Zusammenleben in einer multikulturellen Gesellschaft leisten. Es trägt zu einem besseren Verständnis von unterschiedlichen Kulturen und Religionen bei und fördert Solidarität, Rücksichtnahme und Toleranz.»

Auch wenn in der damaligen Kantonsratsdebatte keiner gefragt hatte, ob es wirklich sinnvoll sei, ein solches Fach bereits in der Unterstufe einzuführen und damals wohl noch keiner davon ausging, dass es ausgerechnet auf Kosten einer Stunde «Mensch und Umwelt» in den Stundenplan aufgenommen würde, kann das nachmalige inhaltliche Scheitern nicht primär dem Postulatstext und damit auch nicht der politischen Vorgabe angelastet werden.

Der Ansatz, alles weltliche auszugrenzen und alles religiöse zu zelebrieren trägt vor allem die Handschrift des zuständigen Bildungsrats Jürgen Oelkers. Er betrachtet «religiösen Analphabetismus» als grosses gesellschaftliches Problem und ist Mitherausgeber des Buches «das verdrängte Erbe», indem lamentiert wird, dass die Pädagogik die Rolle der Religion nicht mehr würdige.

Seine persönliche Überzeugung stand Oelkers ganz offensichtlich im Weg, als er den Auftrag erhalten hatte, die Leitung des Projektes für dieses neue Fach zu übernehmen. Er war es, der im Zürcher Modell Ethik ausdrücklich aussen vor lassen wollte, ja selbst bei der interkantonalen Vereinbarung des Lehrplans 21 für Zürich eine Ausnahmeregel durchdrücken will, weil er weiss, dass das Fach in der von ihm gewählten Aufmachung diesen Leitlinien widerspricht.

Als problematisch erwies sich weiter, dass auch die beiden Hauptvertreter der Pädagogischen Hochschule und des Lehrmittelverlages, Dr. theol. Matthias Pfeiffer und lic. theol. Kuno Schmid, nicht aus ihrer Theologenrolle zu schlüpfen vermochten. Schmid meinte gar ausdrücklich, man müsse das Religiöse ans Licht zerren. Das soll er tun dürfen, Aufgabe der Volksschule ist dies jedoch nicht.

Das Dreier-Team verzichtete trotz des Vorschlages der Freidenker darauf, die Fachstelle Ethik der Universität Zürich beizuziehen, ganz im Gegensatz zum Kanton Graubünden, der ihr gar die Projektleitung für sein eigenes in Entwicklung begriffenen Fachs «Religionskunde und Ethik» übertrug. Auch andere ausserkantonale oder ausländische Materialien und Spezialisten wurden nicht konsultiert, als Zaungäste dabei sein durften nur die Religionsgemeinschaften (und mit einiger Verzögerung auch die Freidenker). Die Mitarbeit der Religionsgemeinschaften bestand jedoch im Wesentlichen im Ausfeilschen, wer wie viele Seitenzahlen zugut hat. Begehren der Freidenker wurden systematisch übergangen, ja mehrfach nicht einmal protokolliert. Eine einzige Religionswissenschafterin, die zu Beginn in dieser Begleitgruppe den Versuch unternommen hatte, den Qualitätsstand zu heben, warf nach einiger Zeit frustriert den Bettel hin, auch ihre Einwände fanden bei Oelkers kein Gehör.

Fehlendes Monitoring

Dass es so weit kommen konnte, hat auch mit der diesbezüglichen Führungsschwäche der zuständigen Bildungsdirektorin, der SP-Regierungsrätin Regine Aeppli zu tun. Ihr Votum an den Kantonsrat liess im Jahr 2005 eigentlich hoffen, dass sie hohe Erwartungen an das Ergebnis haben würde, gerade auch, was das Nichtdiskriminieren nichtreligiöser Kinder anbelangt. Doch das Monitoring entglitt ihr offensichtlich. Dies mag an den zahlreichen parallel stattfindenden Reformen gelegen haben, für die sie zeitgleich verantwortlich war und ist, die zumeist von der Lehrerschaft und von den Medien weitaus intensiver und kritischer begleitet wurden als die Neueinführung dieses Fachs. Doch auch wenn dies ihr Nichthandeln in diesem Krisenfall zu erklären mag, es verdient wie das Lehrbuch die Note ungenügend.

Andreas Kyriacou, Präsident Zürcher Freidenker

Prozessspenden

für rechtliche Auseinandersetzung

Das Fach «Religion und Kultur» hat den Status «provisorisch-obligatorisch»: Bildungsrat und Volksschulamt sind sich bewusst, dass sie sich mit ihrem Zürcher Alleingang auf juristisch dünnem Eis bewegen. Artikel 15 der Bundesverfassung hält fest dass niemand gezwungen werden darf religiösem Unterricht zu folgen.

Da es im Rahmen der Mitarbeit in der Begleitgruppe nicht möglich war, die Einseitigkeit des Fachs zu beseitigen, bietet es keine neutrale Religionskunde sondern faktisch doch nur das, was nicht unter Zwang erteilt werden darf: Religionsunterricht.

Deshalb unterstützen die Freidenker Eltern, die auf eine Abmeldemöglichkeit für ihre Kinder bestehen wollen, finanziell und juristisch.

Wir bitten dazu um Spenden: Postkonto 84-4452-6  Freidenker-Vereinigung der Schweiz, 3000 Bern IBAN: CH7909000000840044526 BIC:  POFICHBEXXX

Vermerk: «Religion und Kultur»