Strafrechtler Killias: Auch leichte Körperverletzung an Kindern ist strafbar

Martin Killias

Der Zürcher Strafrechtsprofessor Martin Killias ist der Ansicht, dass Knabenbeschneidung eigentlich als Offizialdelikt geahndet werden müsste. Er begründet dies mit dem Artikel 123 des Strafgesetzbuches. Dort wird zwar festgehalten, dass einfache Körperverletzung in der Regel ein Antragsdelikt ist. Laut der Ziffer 2 des gleichen Artikels muss der Täter jedoch in gewissen Fällen von Amtes wegen verfolgt werden - namentlich «wenn er die Tat an einem Wehrlosen oder an einer Person begeht, die unter seiner Obhut steht oder für die er zu sorgen hat, namentlich an einem Kind». Diese Vorgabe sei hier erfüllt, sagt Killias. «Meiner Auffassung nach sind der Arzt und die ihn beauftragenden Eltern des Kindes als Mittäter strafbar», sagt Killias. Zur Frage, warum es bisher noch nie ein solches Strafverfahren gegeben habe, sagt er: «Es ist wie bei einer Erfindung: Irgendwann macht einer etwas zum ersten Mal.»

NZZ 25. Juli 2012 Printausgabe

Damit widerspricht der den Schweizer Strafrechtlern Stratenwerth und Niggli in der NZZ vom 22. Juli 2012:

Günter Stratenwerth

Der emeritierte Strafrechtsprofessor Günter Stratenwerth hält die Verurteilung eines Arztes noch aus einem anderen Grund für unwahrscheinlich. Zwar handle es sich bei der Knabenbeschneidung «ohne Zweifel um eine Verletzung des Körpers des Kindes». Strafrechtlich würde es sich aber um einfache Körperverletzung handeln, die nur auf Antrag verfolgt werde, sagt Stratenwerth. Nur der Betroffene oder seine gesetzlichen Vertreter könnten Strafantrag stellen. Das wären also die Eltern des Knaben – und diese haben die Beschneidung ja in aller Regel veranlasst. «Deshalb gibt es in diesen Fällen keinen Kläger», sagt Stratenwerth. In Köln hingegen hat die Staatsanwaltschaft den Arzt von Amtes wegen angeklagt. http://www.nzz.ch/aktuell/schweiz/breiter-support-fuer-knabenbeschneidung-1.17383510

In der heutigen NZZ hält Stratenwerth an seiner Auffassung fest: Zwar sei der Hinweis auf die Ziffer 2 des Artikels 123 «durchaus berechtigt», wenn man den reinen Wortlaut der Ziffer anschaue. Der «Sinn» dieser Bestimmung sei jedoch ein anderer: «Gemeint sind aggressive Akte gegen Kinder, unter Ausnutzung ihrer Wehrlosigkeit oder unter Verletzung der ihnen gegenüber bestehenden Obhutspflicht.» Die Beschneidung sei demgegenüber «ein Akt elterlicher Fürsorge, Ausdruck der Aufnahme des Kindes in ihre Religionsgemeinschaft», sagt Stratenwerth, der einen einflussreichen Kommentar zum Strafgesetzbuch verfasst hat. Würde Killias' Auffassung zutreffen, sagt Stratenwerth, «wäre auch die Impfung von Kindern mithilfe einer Injektion ein von Amtes wegen zu verfolgendes Delikt».

NZZ 25. Juli 2012 Printausgabe

Marcel Niggli

Der Freiburger Strafrechtsprofessor Marcel Niggli hält den Kölner Entscheid auch juristisch für fragwürdig. Knaben würden zwar oft aus religiösen Gründen beschnitten. Im Unterschied zur Frauenbeschneidung habe dies aber gesundheitlich nachweisbar positive Folgen; so werde etwa die Gefahr einer Ansteckung der Sexualpartnerinnen mit Krebs reduziert. Wegen dieser positiven Effekte hält Niggi den Zürcher Operationsstopp für nicht nachvollziehbar. «Konsequenterweise», sagt Niggli, «müsste man sonst auch jede Art von Schönheitsoperation sistieren.»

http://www.nzz.ch/aktuell/schweiz/breiter-support-fuer-knabenbeschneidung-1.17383510