Keine Sonderrechte für Religionsgemeinschaften
Seit letztem Jahr sind die Konfessionsfreien die grösste Weltanschauungsgruppe in der Schweiz. Zuwanderung, das Sterben der gläubigsten Altersgruppen und die zunehmende Religionsferne auch von Kirchenmitgliedern beschleunigen den Säkularisierungstrend. Es ist deshalb höchste Zeit, den Staat auf Kurs zu bringen und den unzähligen Sonderrechten der Religionsgemeinschaften ein Ende zu setzen. Die Freidenkenden müssen dabei Schrittmacher und Vorreiter sein.
Von Andreas Kyriacou
2022 bildeten Personen ohne Religionszugehörigkeit in der Schweiz wohl erstmals die grösste weltanschauliche Einzelgruppe. 2021 lagen die Katholiken mit einem Anteil von 32,9 Prozent noch knapp vor den Religionsfreien mit 32,3 Prozent. Doch die Konfessionslosen legten 2021 um 1,4 Prozentpunkte zu, während die Reformierten 0,7 und die Katholiken 0,9 Prozentpunkte einbüssten. Dies zeigte die im Januar 2023 erschienene Strukturerhebung des Bundesamtes für Statistik (BfS). Reformiert waren im Jahr 2021 21,1 Prozent.
Die Verschiebungen dürften 2022 in ähnlicher Grössenordnung ausgefallen sein. Weitet man den Betrachtungszeitraum aus, wird augenscheinlich, dass der Trend eindeutig ist: Die Bevölkerung der Schweiz wird von Jahr zu Jahr säkularer.
1970 galt nur gut ein Prozent der Bevölkerung als religionsfrei. Ein Jahrzehnt später waren es 4 Prozent, 1990 7,5 Prozent und zur Jahrtausendwende bereits über 11 Prozent. 2010 machten die Nichtreligiösen einen Fünftel der Bevölkerung aus. 2020 waren es schon stolze 30,9 Prozent. Im selben Zeitraum (1970 bis 2020) sank der Bevölkerungsanteil der Reformierten von knapp 49 auf 21,1 Prozent und derjenige der Katholiken von knapp 47 auf 32,9 Prozent.
Die anderen christlichen Glaubensgemeinschaften, dazu zählen insbesondere evangelikale und orthodoxe Gruppierungen, wuchsen im selben Zeitraum von 2 auf 5,6 Prozent der Bevölkerung an. Auch der Anteil der Musliminnen und Muslime nahm zu. In der Volkszählung 1990 machten sie erstmals mehr als ein Prozent aus, 2021 waren es 5,7 Prozent. Die Zahl der Angehörigen des Judentums und anderer Religionsgemeinschaften stagniert. 2021 hatten sie einen Anteil von rund 1,5 Prozent.
BfS-Daten zeigen: Der unterschiedlich starke Rückgang von Reformierten und Katholiken ist primär auf die Zuwanderung zurückzuführen. Von den aktuell gut 1,7 Millionen Ausländerinnen und Ausländern ab 15 Jahren sind über 610 000 katholisch, aber nur knapp 70 000 evangelisch-reformiert. Einzig unter den in der Schweiz lebenden Deutschen liegt der Protestantenanteil mit knapp 19 Prozent im zweistelligen Bereich. Hingegen machen die Katholiken unter den hier lebenden Spaniern, Portugiesen und Italienern zwischen 56 und 72 Prozent aus.
Der Effekt der Zuwanderung
Die Migrationsgewinne verschieben sich aber zunehmend zugunsten der Religionsfreien, denn auch in den Ländern, aus denen die Zuwandernden überwiegend stammen, spielt Religion eine immer geringere Rolle. Als Beispiel: In einer repräsentativen Befragung in Spanien im Jahr 2020 gaben 30 Prozent an, agnostisch, atheistisch oder religiös indifferent zu sein. Weitere 47 Prozent bezeichneten sich als nicht praktizierende Katholiken. Nur ein Fünftel gab an, den katholischen Glauben zu praktizieren. Dieser Wert dürfte in den kommenden Jahren deutlich sinken, denn unter den 18- bis 24-Jährigen sind es nur knapp 10 Prozent, während die über 64-Jährigen zu 40 Prozent von sich sagen, praktizierende Katholikin oder praktizierender Katholik zu sein. In der jüngsten Alterskategorie bezeichnen sich 53 Prozent als agnostisch, atheistisch oder indifferent, während es in der höchsten nur 11 Prozent sind.
Mehr religionsfreie Einwanderer – vor allem aus Deutschland
Die Entwicklungen in den klassischen Herkunftsländern verlaufen alle ähnlich, wenn auch in unterschiedlichem Tempo. Besonders ausgeprägt ist die Säkularisierung unter deutschen Zuwandernden. 53 Prozent der in der Schweiz lebenden Deutschen geben an, religionsfrei zu sein. In Deutschland selbst machten die Nichtreligiösen Ende 2020 41 Prozent der Bevölkerung aus.
Die Differenz zu den in der Schweiz lebenden Deutschen dürfte primär auf den höheren Altersschnitt zurückzuführen sein: Wer auswandert, ist vergleichsweise jung und damit – im Schnitt – auch religionsferner. Dass die Schweiz primär jüngere Personen anzieht, zeigen weitere BfS-Statistiken: Es sind überwiegend die Alterskategorien bis 40 Jahre, bei denen der Wanderungssaldo positiv ist, also mehr Personen mit ausländischem Pass ein- als auswandern. Bei den über 64-Jährigen hingegen überwiegt die Rückwanderung in die Heimatländer. Und dieses Alterssegment ist überdurchschnittlich kirchentreu. Insbesondere die katholische Kirche steht also vor einer doppelten Herausforderung: Zuwanderer aus den klassischen katholischen Herkunftsländern haben immer häufiger keinen Kirchenbezug mehr und ein Teil ihrer Mitglieder mit Migrationshintergrund wandert wieder aus.
Nur zu einem Bruchteil christlich
2021 zählte die Schweiz einen Wanderungssaldo von gut 55 000 Personen. Die EU-Staaten trugen mehr als zwei Drittel bei. Zuwandernde aus Deutschland, Italien und Frankreich machen wiederum fast zwei Drittel der Nettozuwanderung aus dem EU-Raum aus. Von diesen drei Diaspora-Gruppen ist aber nur noch die italienische mehrheitlich christlich; bei den Deutschen und Franzosen überwiegen die Konfessionsfreien. Die viertplatzierten Spanier sind zwar ebenfalls noch mehrheitlich christlich, aber sie bilden nur eine knapp ein Drittel so grosse Gemeinde wie die Deutschen. Für die weiteren Regionen mit einem positiven Wandersaldo (Balkanländer und restliches Europa, Amerika, Asien und Afrika) gilt: Die staatlich anerkannten Kirchen können ihre Mitgliederstatistiken kaum mehr durch Immigration aus diesen Erdteilen aufbessern. Lediglich unter Afrikanern liegt der Katholikenanteil mit 14 Prozent knapp im zweistelligen Bereich. Verschiebungen gibt es, je nach Region, primär zugunsten der Religionsfreien, der Muslime und – aufgrund von Zuzügen aus Asien – der anderen Religionsgemeinschaften.
Dazu kommt: Selbst Mitglieder der katholischen oder reformierten Kirche, aber auch Personen, die sich als Muslimin oder Muslim bezeichnen, sind zu einem beträchtlichen Teil religionsfern.
Religionsferne «Gläubige»
Dies veranschaulicht unter anderem eine Auswertung von Peter Moser des Statistischen Amtes des Kantons Zürich. Fast die Hälfte der Reformierten und ein Drittel der Katholiken stuft er aufgrund der Rückmeldungen zu Religiosität und Spiritualität als säkular ein, ebenso ein Drittel der Muslime. Dies sollten Politikerinnen und Politiker beachten, wenn sie vorgeben, sich für die Anliegen «der Muslime» einzusetzen. Sie sind eine genauso heterogene Gruppe wie die Reformierten oder die Katholiken. Und ebenso relevant: Im Kanton Zürich zählte gemäss der moserschen Analyse im Jahr 2019 bereits die Hälfte der Bevölkerung zu den Säkularen.
Es ist vorhersehbar: Ende dieses Jahrzehnts wird die Schweiz mehr Religionsfreie zählen als Reformierte und Katholiken zusammen. Zählt man die faktisch areligiösen Mitglieder der Kirchen und der anderen Religionsgemeinschaften dazu, werden im Jahr 2030 rund zwei Drittel der Bevölkerung eine klare säkulare Mehrheit darstellen.
Eine Kehrtwende in der Politik ist nötig
Die Politik tut sich schwer, adäquat auf diese Veränderungen zu reagieren. Die unkritische Unterstützung des Kasernenbaus im Vatikan in der grossen Mehrheit der Kantone zeigt dies deutlich. Die Kirchen lobbyieren geschickt und meist finden sie willfährige Mehrheiten in Regierungen und Parlamenten. Das jüngste Beispiel: Das ehemals verstaatlichte Kloster Mariastein im Kanton Solothurn wurde nach einer Volksabstimmung im Jahr 1970 den Klosterbrüdern zurückgegeben. Das Kloster hätte seine Freiheit zurückerhalten, meinte der damalige Landamman und spätere Bundesrat Willi Ritschard. Gut 50 Jahre später wirft der Kanton dem Kloster für die Neugestaltung des Vorplatzes 2,4 Millionen Franken nach, abgesegnet von Regierung und Parlamentsmehrheit. Der Kanton leistete sich schon 2019 eine Ungeheuerlichkeit: Die Reform der Unternehmenssteuern führte auch bei den Kirchen zu Einnahmeausfällen. Doch statt angesichts der schwindenden Mitgliederzahlen die Kosten zu reduzieren, weibelten die Kirchen erfolgreich dafür, dass der Staat, der durch die Steuerreform selbst deutliche Mindereinnahmen zu verkraften hatte, ihnen einen Fixbetrag von 10 Millionen Franken zusicherte, obschon vorhersehbar war, dass die Einnahmen aus den Unternehmenskirchensteuern geringer ausfallen würden. Die Ungerechtigkeiten im Steuerrecht gehen aber noch deutlich weiter: Kirchen sind in mehreren Kantonen von Gewinnsteuern aller Art befreit.
Und die Religionsgemeinschaften werden nicht nur finanziell bevorzugt. Im schulischen Religionskundeunterricht wird die Lebenswelt der nichtreligiösen Kinder meist ausgeblendet, es fehlt an weltlichen Alternativen zur Seelsorge und anderen Beratungseinrichtungen, die vielerorts an die Kirchen ausgelagert werden. Und mehrere Kantone verleihen religiösen «runden Tischen» einen Sonderstatus, schliessen aber Vertretungen säkular-humanistischer Weltanschauungen aus.
Freidenkerinnen und Freidenker als Schrittmacher
Die letztjährige Abstimmung zum Luzerner Staatsbeitrag an die Vatikankaserne hat gezeigt: Wir sind mit unseren Positionen mehrheitsfähig. Wir müssen Regierungen und Parlamenten klar machen, dass sie mit uns zu rechnen haben, mit Referenden, aber auch mit Initiativen. Und wir müssen diejenigen Politikerinnen und Politiker stärken, die ebenfalls eine säkulare Schweiz wollen. Die gibt’s erfreulicherweise in fast allen Parteien. In Luzern und im Wallis hat die Zusammenarbeit letztes Jahr hervorragend geklappt. Wir müssen uns mehr zutrauen –
und mehr anpacken. Lassen wir die 2020er-Jahre das Jahrzehnt der Säkularisierung sein! Macht mit. Je mehr Personen aktiv mithelfen, desto mehr können wir erreichen.
Dieser Artikel erschien in unserem Magazin "frei denken." in der Frühlingsausgabe 2023.