Die Pandemie als Radikalisierungsursache?
Die Pandemie scheint – zu unser aller Erleichterung – vorbei zu sein. Das Virus allerdings ist gekommen, um zu bleiben. Und es wird sich weiter verändern, mit etwas Glück nicht wieder zum Schlechteren. Doch nicht nur das Virus ist nicht mehr dasselbe wie 2020. Es hatte auch seinen Anteil an Veränderungen bei Einzelpersonen. Auf beunruhigende Weise.
von Andreas Kyriacou
Als Anfang März 2020 klar wurde, dass fast alles anders werden würde, haben sich die meisten schnell arrangiert. Man half sich gegenseitig und wusste, dass Improvisation, Geduld und Rücksichtnahme gefragt waren. Doch schon früh waren sich einige sicher: Die Warnungen sind übertrieben, ja gar bewusst inszeniert, um die Bevölkerung zu kontrollieren.
Vom Contrarian zum Wutbürger mit eigenem Sender
Da war beispielsweise Daniel Stricker, ehemals innovativer weltlicher Ritualbegleiter. Öffentliche Aufmerksamkeit war ihm schon immer wichtig, und er nutzte sein Flair dazu gut. Auch die Freidenkenden profitierten davon, als er Mitte der 2010er-Jahre die Ostschweizer Sektion präsidierte. Doch dann kamen die Entfremdung und der Austritt. Er hatte zunehmend ein Faible für «Anti-Mainstream-Positionen» entwickelt. Öffentlich interessierte dies damals aber kaum. Als Stricker am 28. Februar 2020 twitterte «Das #Coronavirus ist in erster Linie ein Medien- und Computervirus», erntete er genau ein Like. Und als er am 4. April mit «It‘s a fucking flu!» nachlegte, reagierten fünf Personen.
Anfänglicher Konsens
In dieser frühen Phase der Virusausbreitung gab es nicht nur einen relativ breiten Konsens, dass es Massnahmen zur Eindämmung braucht, sondern auch darüber, dass niemand genau wissen konnte, wie sich die Pandemie entwickeln würde. Ja, es gab sehr pessimistische Modellrechnungen aus der Wissenschaft, aber diese waren immer an Rahmenbedingungen geknüpft, die eintreten konnten oder auch nicht. Doch es gab auch einzelne Forschende, die sich schon früh sicher waren, dass das Virus überschätzt werde, und für sich in Anspruch nahmen, es am besten zu wissen – der Epidemiologe John Ioannidis zum Beispiel.
Diejenigen, die sich ohne eigene Kenntnisse in Statistik oder Epidemiologie berufen fühlten, die Pandemie zu einer Farce zu erklären, stürzten sich auf die Aussagen dieser Mavericks des Wissenschaftsbetriebs. Und natürlich kümmerte es sie nicht, dass andere Forschende widersprachen. Stricker und anderen ging es nicht um Wahrheitssuche, denn sie hatten die ihre schon gefunden. Und er auch eine neue Rolle.
Die einfachen Antworten als Verlockung
Stricker, der längst einen YouTube-Kanal mit bescheidener Reichweite betrieb, begann tagtäglich über Corona zu sprechen. Und allmählich wuchs sein Publikum. Seine Botschaft klang für einige verheissungsvoll, denn je länger die aussergewöhnliche, später die besondere Lage andauerte, desto präsenter wurden verständlicherweise die Zukunftsängste. Kulturschaffende oder Restaurantbetreiber beispielsweise sorgten sich nicht nur um ihr momentanes Einkommen, sondern auch um ihre Karriere. Was, wenn sich das Ausgehverhalten nachhaltig verändern würde?
Bald wollte Stricker den Bundesrat ins Gefängnis stecken und bejammerte mit Studiogästen, dass die Schweiz zur Diktatur verkommen sei. Noch radikaler klingt es bei Michael Bubendorf. Anfänglich wollte er als Sprachrohr der «Freunde der Verfassung» diese schützen. Nun gibt er offen zu, «kein Freund der Verfassung und kein Demokrat mehr» zu sein.
Radikalisierung oder Inszenierung?
Es bleibt unklar, ob diese immer extremistischen Positionen tatsächlich Ergebnis einer fortlaufenden Radikalisierung sind oder eine blosse Inszenierung, um das Publikum bei Laune zu halten. Denn ein einfaches Zurück gibt es für sie kaum. Den dauerfluchenden Kopf von StrickerTV kann sich heute kaum noch jemand als Hochzeitszeremoniar vorstellen. Also bleiben YouTube-Werbe-, Abo- und Merchandising-Einnahmen wichtig. Vielleicht meldet er sich gerade deshalb in letzter Zeit zunehmend als «Ukraine-Kritiker» zu Wort. Anti-Mainstream ist schliesslich sein Markenzeichen geworden.
Und wir? Wir setzten dem Extremismus unseren Freiheitsimpfler entgegen. Der braucht weder vulgär noch antidemokratisch zu werden, um verstanden zu werden.