Interview mit Michael Schmidt-Salomon zu seinem neuen Buch
Der Philosoph und Autor Michael Schmidt-Salomon ist seit seinem 2005 erschienenen «Manifest des evolutionären Humanismus» eine der wichtigsten säkular-humanistischen Stimmen im deutschsprachigen Raum. Nun hat er ein neues Buch veröffentlicht: Die Evolution des Denkens: Das moderne Weltbild – und wem wir es verdanken. Andreas Kyriacou unterhielt sich mit ihm über sein neustes Werk.
Michael Schmidt-Salomon ist vom 4. bis 8. März in Basel, Bern und Stans bei den Freidenkern zu Gast.
AK: Im Sommer 2022 hattest du bei einem Kaffeegespräch angekündigt, dass du dich vermehrt aus der Öffentlichkeit zurückziehen und vor allem keine Bücher mehr schreiben wolltest. Und nun legst du ein neues Werk mit fast 400 Seiten vor. Was gab den Ansporn, doch noch einmal in die Tasten zu hauen?
MSS: Tatsächlich wollte ich meiner Familie kein weiteres Buch mehr zumuten, da ich gar nicht anders kann, als im «Zustand der Besessenheit» zu schreiben, manchmal 30 Stunden am Stück. Dann allerdings hörte ich auf dem Kortizes-Symposium im Herbst 2022, man könne die «Genialität» einer Person quantitativ anhand der Vielzahl ihrer Wikipedia-Einträge erfassen. Diese Vorstellung hat mich irgendwie aufgeregt, schliesslich gibt es zu Donald Trump sehr viel mehr Wikipedia-Seiten als zu Marie Curie oder Alfred Wegener. Eine Woche später konnte ich nachts nicht schlafen, da meine Gedanken noch immer um dieses Thema kreisten. Also stand ich auf und tippte zwischen 4 und 5 Uhr morgens das Exposé sowie das Inhaltsverzeichnis für ein mögliches Buch in den Computer. Völlig übermüdet und ohne gross darüber nachzudenken, schickte ich das Ganze an meine Agentin. Wenige Tage später kam das Verlagsangebot herein – und ich aus der Nummer nicht mehr heraus! Meiner Familie musste ich gestehen, dass ich mein Versprechen aus Übermüdung gebrochen hatte, was zunächst nur auf begrenzte Begeisterung stiess. Letztlich aber bin ich froh darüber, das Buch geschrieben zu haben, da es mir selbst sehr gut gefällt und es zudem auch noch perfekt zu unserem Stiftungsjubiläum passt: 2024 wird die Giordano-Bruno-Stiftung (gbs) nämlich 20 Jahre alt – und das Buch ist in erster Linie eine Hommage an jene Menschen, auf deren Erkenntnissen das Weltbild der gbs massgeblich gründet.
Du gibst uns Einblick in das Leben von zehn Personen, an denen du den schrittweisen Erkenntnisgewinn unserer Spezies aufzeigst. Du erzählst, mit wem sie im Austausch waren und welche Debatten sie führten. Gibt es eine Epoche, ein Gespräch, an dem du gerne dabei gewesen wärst?
Ich hätte alle 10 «Influencer», die ich in dem Buch beschreibe, liebend gerne getroffen. In London hätte man im 19. Jahrhundert Charles Darwin und Karl Marx besuchen können, die ja gar nicht so weit voneinander entfernt lebten, auch wenn sie sich persönlich niemals begegneten. Gerne wäre ich auch bei den gemeinsamen Wanderausflügen von Marie Curie und Albert Einstein dabei gewesen, als Einstein seine ersten Ideen zur Allgemeinen Relativitätstheorie skizzierte. Aber wenn ich mich entscheiden müsste, so würde ich wohl einen Abstecher in den Garten des Epikur machen. Ich finde es faszinierend, dass Epikur schon vor 2300 Jahren die Grundlagen des modernen Weltbildes antizipieren konnte, vom atomaren Aufbau der Welt, dem evolutionären Aufstieg und Untergang der Arten, über die Annahme der Existenz vieler belebter Welten in einem unendlichen Universum bis hin zur Idee des Gesellschaftsvertrags. Man könnte sagen: Das moderne Weltbild ruht auf den Schultern von Epikur. Und das ist in gewisser Hinsicht auch der Clou des neuen Buches: Wenn man nämlich die «Evolution des Denkens» von Epikur aus betrachtet, wächst zusammen, was zusammengehört. So zeigt sich beispielsweise, dass die beiden «Epikureer» Marx und Nietzsche sehr viel mehr miteinander verbindet, als man auf den ersten Blick annehmen würde.
Du führst eingangs auf, dass es ein Abbild der ungleichen Chancen sei, die Frauen und Männer bis in die jüngste Gegenwart hatten, dass Marie Curie die einzige Frau ist, die in deinem Buch ein eigenes Kapitel erhält. Ebenso erläuterst du, dass die im Buch besonders vertiefte intellektuelle und technologische Entwicklung vom 18. bis zum 20. Jahrhundert vor allem in Europa und Nordamerika stattfand und deshalb die Porträtierten alle diesem Kulturraum entstammen. Dennoch die Frage: Wie ähnlich oder unterschiedlich, denkst du, wäre die Wahl ausgefallen, wenn eine Inderin oder ein Chinese zehn Personen ausgesucht hätte, um die Evolution des Denkens zu veranschaulichen?
Ich meine, dass es für eine rationale Debatte völlig unerheblich ist, aus welchem Kulturkreis ein Mensch stammt, der unser Streben nach Erkenntnis in besonderer Weise vorangebracht hat. Warum auch sollte eine Inderin oder ein Chinese abstreiten, dass Marie Curie und Albert Einstein das physikalische Weltbild revolutionierten, dass uns Charles Darwin und Julian Huxley lehrten, das Universum im «Lichte der Evolution» zu betrachten, dass Alfred Wegener unsere Vorstellungen von der Erde radikal verändert hat und Carl Sagan die Bedeutung der Menschheit in den unendlichen Weiten des Kosmos auf völlig neuartige Weise interpretierte? Interkulturell fraglich wären wohl eher die Philosophen Epikur, Marx, Nietzsche und Popper. Doch wie schon Nietzsche hervorhob, ist es so, dass «die erwachenden Wissenschaften Punkt um Punkt an Epikur angeknüpft» haben – nicht an Platon, Aristoteles oder Cicero.
Und Marx wäre zweifellos auch von einem Chinesen in die «Weltauswahl des Geistes» berufen worden, wenn auch aus anderen Gründen als bei mir. Nietzsche und Popper wiederum sind in dem Buch nicht zuletzt auch als Ergänzungen zu Marx wichtig, da sie genau das betonten, was bei Marx unterrepräsentiert war, nämlich die Stärkung des Individuums gegenüber dem Kollektiv sowie die Notwendigkeit einer aufgeklärten Streitkultur, in der alles und jeder hinterfragt werden kann und soll. Zudem: Es ging mir in dem Buch nicht darum, eine Liste der «10 grössten Genies der Menschheit» zu präsentieren. Eine solche Liste sähe wohl von Kultur zu Kultur unterschiedlich aus. Mein Ziel war vielmehr, ein Team zusammenzustellen, das uns dabei helfen kann, die grossen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zu meistern, wie ich es im Kapitel «Die Menschheit im Anthropozän» aufgezeigt habe, mit dem das Buch endet. Im Grunde war meine Aufgabe als Autor vergleichbar mit der eines Fussballtrainers, der nicht unbedingt die genialsten Einzelspieler nominiert, sondern diejenigen, die auf dem Platz am besten miteinander harmonieren. Mag sein, dass ein anderer «Trainer» eine etwas andere Mannschaft für das «Anthropozän-Turnier» aufgestellt hätte, aber ich denke, dass diese «Weltauswahl» nur schwer zu schlagen wäre…
Eine Person, die du im Buch mehrfach erwähnst, die aber kein eigenes Kapitel erhielt, war Giordano Bruno – immerhin der Namenspate der Giordano-Bruno-Stiftung, die du mitbegründet hast und deren Vorstandssprecher du noch immer bist. Wie leicht fiel dir das, ihn halb unter den Tisch fallen zu lassen?
Natürlich hätte ich lieber 50 statt nur 10 «Influencer für ein zeitgemässes Weltbild» beschrieben, aber das hätte den Rahmen des Buches gesprengt. Ich habe das Problem so gelöst, dass die Denkerinnen und Denker, denen ich kein eigenes Kapitel widmen konnte, auf andere Weise im Manuskript erscheinen. Wie man dem Register am Ende des Bandes entnehmen kann, haben es letztlich rund 400 Personen ins Buch geschafft. Einige tauchen gleich in mehreren Kapiteln auf, etwa Bertrand Russell, der mit Einstein, Popper und Huxley befreundet war, oder eben Giordano Bruno. Bei Bruno bot es sich an, ihn vor allem im Epikur-Kapitel zu behandeln, da er letztlich dafür verbrannt wurde, dass er den Mut hatte, im 16. Jahrhundert auf zentrale Gedanken Epikurs zurückzugreifen. Als problematisch empfand ich es vor allem, dass ich auf solch wichtige Denkerinnen und Denker wie Hannah Arendt, Fritz Bauer, Immanuel Kant oder Arthur Schopenhauer nicht näher eingehen konnte. Bei anderen Autorinnen und Autoren habe ich mir allerdings die Freiheit herausgenommen, sie etwas ausführlicher zu beschreiben, etwa Albert Camus, der sich als «Missing Link» zwischen Nietzsche und Marx anbot, oder Erich Fromm, dessen Ausführungen zur «Furcht vor der Freiheit» sich wunderbar eigneten, um vom Marx-Kapitel zum Popper-Kapitel überzuleiten.
Einige der Personen, die du vorstellst, kämpften gegen gängige Lehrmeinungen an und stiessen mit ihren Ideen auf Widerstand, ernteten teilweise Spott. Dass Häretiker zuweilen recht haben, beeinflusst die öffentlichen Diskussionen um wissenschaftliche Erkenntnisse. So mancher sieht sich in den sozialen Medien als kleiner Galileo Galilei oder Alfred Wegener, dessen Zeit schon noch kommen werde. Die Chance, dass ein Tweet oder ein Facebook-Post bahnbrechende Erkenntnisse liefert, ist aber eher klein. Was empfiehlst du bei solchen Debatten?
Giordano Bruno sagte einmal: «Die allgemeine Meinung ist nicht immer die wahrste!» – und er hatte zweifellos recht. Schliesslich wird die Wissenschaft von aufrechtgehenden Primaten betrieben, die leider mitunter nicht der wissenschaftlichen Methode folgen, sondern dem sozialen Anpassungsdruck. Aber das heisst im Umkehrschluss noch lange nicht, dass eine Meinung schon allein deshalb wahr wäre, weil sie dem Mainstream widerspricht! Wir kommen nicht umhin, jegliche Behauptung einer kritischen Prüfung zu unterziehen, wie es Karl Popper und Hans Albert vorgeschlagen haben. Dabei allerdings sollten wir das Ökonomie-Prinzip von David Hume berücksichtigen, der eigentlich ebenfalls ein eigenes Kapitel in dem Buch verdient hätte. Hume meinte nämlich: Je stärker eine Behauptung von allgemein akzeptierten wissenschaftlichen Standards abweicht, umso stärker müssen die Belege sein, die für diese Behauptung sprechen. Genau dies unterscheidet Wegeners Theorie der Kontinentalverschiebung fundamental von den Schwurbeleien, die uns in den sozialen Medien begegnen. Wegener hatte unzählige empirische Belege dafür gesammelt, dass sich die Kontinente tatsächlich bewegen. Etwas auch nur annähernd Vergleichbares gibt es für die bizarre «QAnon»-Verschwörung nicht.
Du rundest das Buch ab mit einem Ausblick, auf das, was uns als Menschheit gelingen müsste, damit das Zeitalter des Anthropozäns nicht das letzte Kapitel dieses Planeten wird. Du blickst, wie mir scheint, vorsichtig optimistisch in die Zukunft. Aktuell sieht es jedoch nicht so aus, als ob wir als Spezies besonders gut darin wären, uns gemeinsam daran zu machen, die grössten anstehenden Probleme zu bewältigen. Militärische Auseinandersetzungen dominieren die Schlagzeilen. Bist du noch immer gleich zuversichtlich, dass wir die Kurve kriegen, wie zum Zeitpunkt, als du dein Manuskript abgeliefert hast?
Meine Einstellung hat sich nicht verändert, da ich seit jeher weder Optimist noch Pessimist, sondern Possibilist bin. Das heisst: Ich gehe davon aus, dass die Zukunft nicht notwendigerweise besser ist als die Gegenwart, aber auch nicht notwendigerweise schlechter. Natürlich ist die weltpolitische Lage, in die uns die «Internationale der Nationalisten» geführt hat, besorgniserregend, wie ich im Buch aufzeige. Denn: Je höher der Technologiegrad einer Zivilisation ist, desto grösser ist auch ihr Selbstzerstörungspotenzial. Im Sinne der sogenannten «Drake-Gleichung» besitzt die Menschheit erst seit knapp einem Jahrhundert eine hochentwickelte Technologie – seitdem stand sie jedoch schon mehrere Male kurz vor der kollektiven Selbstausrottung. Damit es nicht dazu kommt, müssen wir das Anthropozän mit dem Besten anreichern, was die Menschheit hervorgebracht hat – nicht mit Plastikmüll, Umweltgiften und lebensfeindlichen Ideologien, sondern mit den grossen Errungenschaften der Wissenschaft, Philosophie und Kunst. Die Chance dazu besteht durchaus, auch wenn es keineswegs ausgemacht ist, ob wir diese Chance tatsächlich ergreifen werden.
Anders als in deinen früheren Werken stehen hier nicht deine eigenen Ideen im Vordergrund, du übernimmst vielmehr die Rolle des Beobachters, der anderen beim Denken und Argumentieren zuschaut. Das wirkt doch ein wenig nach schrittweisem Rückzug aus der Öffentlichkeit. Aber nun hat die gbs Mitte Januar eine Kampagne zur Abschaffung des Gotteslästerungsparagrafen in Deutschland gestartet – und du standest wieder in den Medien. Bleibst du uns als Vorkämpfer für humanistische und säkulare Anliegen also doch noch eine Weile erhalten?
Selbstverständlich werde ich meine Funktion als Vorsitzender und Sprecher der Giordano-Bruno-Stiftung weiter ausfüllen und dafür auch ins Rampenlicht treten, wenn dies erforderlich ist. Den «schrittweisen Rückzug aus der Öffentlichkeit» trete ich allerdings schon seit 10 Jahren an. So habe ich bis 2014 sehr viele Talkshow-Einladungen angenommen, um die gbs und ihre Anliegen bekannter zu machen. Seit 2014 mache ich das nur noch in Ausnahmefällen und versuche stattdessen, andere interessante Persönlichkeiten zu vermitteln. Dies hat zwei Gründe: Erstens muss die Stiftung irgendwann auch ohne mich weiterlaufen, spätestens dann, wenn ich aus gesundheitlichen oder altersbedingten Gründen nicht mehr in der Lage bin, die gbs zu leiten. Und zweitens lebe ich persönlich gerne nach der epikureischen Maxime «Lebe im Verborgenen». In diesem Zusammenhang habe ich erfreulicherweise festgestellt, dass man durchaus Veränderungen anstossen kann, ohne dafür sein Gesicht in eine Kamera halten zu müssen. Bei der Abschaffung der 217 und 219a StGB beispielsweise bestand meine Rolle darin, rechtspolitische Stellungnahmen zu verfassen und entsprechende Kampagnen zu planen. Das Gesicht für diese Kampagnen gaben andere, die das auch sehr viel glaubwürdiger tun konnten, etwa der Sterbehelfer Uwe-Christian Arnold oder die Giessener Allgemeinärztin Kristina Hänel. Bei der angestrebten Streichung des sogenannten «Gotteslästerungsparagrafen» ist das anders, da wir niemanden gefunden haben, der den Text des Anwalts von Charlie Hebdo hätte vortragen können. Und das gilt natürlich auch für die anstehenden Vorstellungen meines neuen Buches. Denn es handelt sich dabei um einen Text, der ganz wesentlich von meiner Art des Denkens geprägt ist. Es stimmt zwar, dass ich mich persönlich in diesem Buch mehr zurückgenommen habe als in den vorangegangenen Büchern – und doch habe ich den Eindruck, dass «Die Evolution des Denkens» meine eigene Sicht auf «das Leben, das Universum und den ganzen Rest» letztlich sehr viel genauer und umfassender widerspiegelt als beispielsweise das «Manifest des evolutionären Humanismus».
Herzlichen Dank für das Gespräch – und auf bald bei deiner Lesetour durch die Schweiz!