Landeskirchen und Evangelische Allianz

In einem Artikel über Freikirchen in Winterthur ("Jesus kam nach Winterthur") wird in der NZZaS vom 19.7.2009 in einem Kasten versucht, den Unterschied zwischen Freikirchen und Landeskirche aufzuzeigen:

Bekehrt, wortgläubig

Das trennt die Freikirche von der Landeskirche

Die Freiheit, die die «Freikirchen» (auch Evangelikale oder Fundamentalisten genannt) im Namen tragen, bezieht sich ursprünglich auf ihre Unabhängigkeit vom Staat. Während sich die Landeskirchen in der Schweiz aus der Kirchensteuer finanzieren, leben Freikirchen allein von privaten Spenden. Als «frei» im Sinn von selbst gewählt gilt zudem der Akt der Bekehrung. «Christ» im evangelikalen Sinn ist man nicht von Geburt an, sondern man entscheidet sich bewusst dafür und lässt sich dann taufen. Anders als in der Landeskirche spielt sich das freikirchliche Leben nicht hauptsächlich in Gottesdiensten ab. Die Institution greift weiter in das Leben der Gläubigen ein, die oft auch ihre Freizeit unter Glaubensgenossen verbringen und sich unter der Woche in Kleingruppen und «Hauskreisen» treffen. Zentral ist auch die wörtliche Bibelauslegung. Gemäss der «Evangelischen Allianz Winterthur» besitzt die Heilige Schrift «völlige Zuverlässigkeit und höchste Autorität in allen Fragen des Glaubens und der Lebensführung». Texte werden ihres mythologischen Gewandes entkleidet, die «Speisung der 5000» etwa gilt als historische Tatsache. Viele Freikirchler leben zudem in der Überzeugung, dass sich Krankheiten durch «Heilgebete» kurieren lassen. Politische Opposition ist ihnen vor allem dadurch erwachsen, dass sie ein konservatives Weltbild pflegen: Sex vor der Ehe lehnen sie ebenso ab wie Homosexualität; in der Ehe gilt der Mann als Oberhaupt. (mah.)

Leserbrief der FVS

NZZaS 19.7.2009 (mah)

Im Artikel wird nicht darauf hingewiesen, dass etliche reformierte Kirchgemeinden Mitglied der Schweizerischen Evangelischen Allianz SEA sind. Auch in Winterthur ist dies der Fall*. Der Beitritt der Kirchgemeinden basiert in der Regel nicht auf einem demokratischen Entscheid sondern läuft unter dem Begriff „Oekumene“. Die Unterschiede sind also fliessend. Die reformierten MitbürgerInnen tun gut daran, sich zu erkundigen, ob ihre Kirchgemeinde dazu gehört und sie deshalb indirekt z.B. das homophobe Gedankengut unterstützen.

*Beleg: http://www.each.ch/sea/sektionen/index.php?limitpos[f9a2ae33939a4065fb04063f65dfaf5c]=all&

Sektion Winterthur der SEA: 15 Mitglieder, darunter 1 reformierte Kirchgemeinde (Abkürzung LK)

SEA Ostschweiz

Reformierte Kirchgemeinden als Mitglieder einer extremen evangelikalen Organisation Mehrere reformierte Landeskirchgemeinden der Ostschweiz (z. B. Amriswil, Bischofszell, Kreuzlingen, Rheineck, St. Gallen, Wil SG) sind in ihrer Gesamtheit Mitglied der „Schweizerischen Evangelischen Allianz“. Dabei handelt es sich um die grösste und einflussreichste evangelikale Organisation der Schweiz, eine Bewegung von Christinnen und Christen aus rund 600 evangelischen Kirchen und Freikirchen. 
  
Wie sehen die Positionen der SEA aus? Homosexualität: Homosexuelle Praxis sei eine „Verfehlung der Schöpfungsabsicht Gottes. Die SEA erwartet vom Gesetzgeber, dass Personen und Gruppierungen, die aufgrund ihrer Weltanschauung Homosexualität nicht als Variante der menschlichen Sexualität, sondern als Störung und Verfehlung ansehen, volle Freiheit haben, diese Meinung öffentlich zu vertreten.“
Schwangerschaftsabbruch: Ein straffreier Schwangerschaftsabbruch soll gemäss SEA nur in „Situationen von grosser Not bei Vergewaltigung und bei medizinischer Indikation (Gefährdung der Mutter an Leib und Leben)“ möglich sein.
Absolutheitsanspruch: „Als Christen sprechen wir nicht vom Absolutheitsanspruch des Christentums gegenüber den anderen Religionen .... Es ist dem Christen nicht möglich, vom Anspruch abzurücken, dass Jesus Christus Retter und Herr der Welt ist. Er kann an einem religiösen Dialog nur teilnehmen als einer, der von vornherein beansprucht ist, ohne darüber verfügen zu können.“ Mit anderen Worten: Der Absolutheitsanspruch ist für diese Christen eine Tatsache, die jedoch verschwiegen werden sollte, um von Nicht-Christen nicht als intolerant wahrgenommen zu werden.
 
Bei der SEA handelt es sich also um eine evangelikale Organisation. Dass sie sich stattdessen „Schweizerische Evangelische Allianz“ nennt, ist ein Etikettenschwindel, weil das Adjektiv „evangelikal“ in Europa negativ besetzt ist. 
Die reformierte Landeskirche hätte die wichtige Aufgabe, den fundamentalistischen Evangelikalen mit ihren Absolutheitsansprüchen eine humanistische Position entgegenzusetzen, gerade auch zur Erhaltung des sozialen Friedens. Leider läuft dies ihrem Eigeninteresse zuwider, das Christentum zu verbreiten und die kleine Minderheit aktiver Mitglieder, unter denen wohl viele Evangelikale sind, bei der Stange zu halten.

Pfr. Christoph Casty begründet den Beitritt der Kirchgemeinde Wil mit der Dialogbereitschaft und dem Wunsch, der „unseligen Zersplitterung in der reformierten Welt etwas entgegenzusetzen.“
Dialog bedingt aber keinen Beitritt. Und ob ein Kittungsversuch die Unterstützung einer derartigen Organisation rechtfertigt, muss zumindest diskutiert werden.
Ich hoffe, dass einige betroffene Kirchgemeinde-Mitglieder das Gespräch mit ihren Pfarrern suchen und die Mitgliedschaft ihrer Kirchgemeinde bei dieser evangelikalen Organisation in Frage stellen.

Dr. med. Maja Strasser, Bern (1988 in der reformierten Kirche Wil SG konfirmiert)

11.05.2009 St. Galler Tagblatt: Angst vor evangelikaler Vereinnahmung

Kommentar von Maja Strasser zum Artikel

Ich hatte meinen Vater, der in Bronschhofen SG wohnt und Mitglied der ref. Kirche ist, über seine indirekte Mitgliedschaft in der SEA informiert. Nachdem ich die naive Antwort des Pfarrers (vermutlich hat er selbst einige Sympathien für die SEA?) auf die Anfrage meines Vaters gelesen hatte, fand ich, dass da eine dezidierte Stellungnahme hingehört. Nun hat das Tagblatt nicht nur den offenen Brief veröffentlicht, sondern sogar einen kleinen Artikel dazu geschrieben.

Ich finde diesen Artikel (s. attachment) unbefriedigend, in mancherlei Hinsicht:

die Zusammenarbeit auf lokaler Ebene muss diskutiert werden, weil die SEA gerade auch lokal, an der Basis, vereinnahmen will

ein Dialog und eine (genau zu definierende) Zusammenarbeit zw. LK und SEA bedingen keinen Beitritt

die Positionen der SEA werden überhaupt nicht dargestellt. Stattdessen wird nur zitiert, dass ich die Organisation für extrem halte, und andere dies anders sehen. Wenn der Journalist sich die Mühe genommen hätte, die Anschauungen der SEA im Detail aufzuzeigen, könnte sich die Leserschaft selbst ein Bild darüber machen

Ich hätte mir einen objektiven Artikel über die SEA und ihr Verhältnis zur Landeskirche gewünscht, nicht über die Ansichten unterschiedlicher Personen, und schon gar nicht über meine Meinung, da ich keine Kennerin dieser Szene bin (und dies auch nie behauptet habe).

Eine aktive Christin, die seit Jahren die zunehmende Evangelikalisierung der Kirchgemeinde Wil kritisiert und sich als liberale Nicht-Evangelikale "nicht mehr wohl und oft ausgegrenzt fühlt", hat sich sehr freundlich für meinen offenen Brief bedankt. Aus dem, was sie mir schreibt, entnehme ich, dass diese Kirchgemeinde nicht nur SEA-Mitglied ist, sondern immer mehr evangelikal gesinnt sei.

Naja, immerhin habe ich es versucht, und vielleicht regt es doch einige Taufschein-Christen zum Nachdenken über "unsere" Landeskirche und ihren angeblich so unverzichtbaren Beitrag für den sozialen Frieden an.

Landeskirchen und SEA

Stand 2009

Gemäss Erhebung der FVS auf der Webseite der SEA: von rund 730 reformierten Kirchgemeinden in der Schweiz sind mehr als 100 Mitglied bei der SEA.

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