Diesseits von Gut und Böse

Den Atheisten ist überhaupt nichts heilig! An diesem Vorurteil ist etwas Wahres – und trotzdem alles falsch. Eine Verteidigung der Gottlosen gegen ihre unermüdlichen Gegner.

»Aber niemand kann dermaßen aus der Menschheit herausfallen«, schrieb düster der Psychologe Carl Gustav Jung (1875 bis 1961), dass er nicht Anhänger einer »modernen Abart der historischen Konfessionen« sei. »Gerade sein Materialismus, Atheismus, Kommunismus, Sozialismus, Liberalismus, Intellektualismus, Existenzialismus zeugt gegen seine Harmlosigkeit. Er ist irgendwo, so oder so, laut oder leise, von einer übergeordneten Idee besessen.«

Diese Psychologie der Gottlosigkeit ist seit Jahrhunderten Bestandteil der theologischen Literatur. Im Menschen klaffe eine unendliche Lücke, die vollständig nur durch den Unendlichen ausgefüllt werden könne, so geht der Gedanke. Die aggressive Variante vertritt Fabrice Hadjadj, ein derzeit im katholischen Frankreich prominenter Buchautor: Der Atheist ersetze Gott durch Götzen, »den Fortschritt, die Vernunft, die Revolution, den Markt, den Planeten« oder eine unchristliche Spiritualität. Für Hadjadj steht fest, dass dieser Götzendienst des Teufels sei; so steht es in seinem jüngsten Buch Der Glaube der Dämonen .

Hätten wir also hier endlich den Glauben der Atheisten am Wickel? Richtig ist, dass jeder Mensch in Gefahr steht, einer Ideologie anheimzufallen. Das hat Ursachen, die jenseits der Vernunft liegen, ob in der Neurophysiologie, der Tiefenpsychologie, der Kultur oder in allem zugleich. Mit Argumenten allein können diese Triebkräfte nicht neutralisiert werden. »Das Glaubensverlangen kehrt immer wieder zurück«, schreibt der atheistische Schriftsteller Pascal Quignard in seinem aktuellen Roman La barque silencieuse, »wie der Schlaf oder der Durst oder der Liebeswunsch. Verlust ruft nach Ersatz, der Hunger nach dem Traum.« Doch man kann sich diesem Ruf verweigern. Das ist eine Lebenskunst.

Im 16. Jahrhundert kursierte ein Buch, heimlich wie einst die Samisdats in der Sowjetunion, das Ars nihil credendi hieß, also »Die Kunst, nichts zu glauben«. Ein unbeholfener Text, verfasst von einem Mann namens Geoffroy Vallée. Die Existenz Gottes war ihm selbstverständlich, aber er setzte ihn in eins mit der Welt, die sich nicht dem Glauben, sondern nur der Vernunft erschließe. Vallée war 24 Jahre, als er 1574 wegen solcher Gedanken zum Tode verurteilt wurde. Seine christlichen Henker wollten Gewissheit. Sie erhängten ihn erst und verbrannten ihn dann.

Ganzer Artikel: http://www.zeit.de/2010/37/Atheisten-Glauben

Schlagworte