Religion an der Volksschule des Kantons Tessin

Stand Juni 2010

Mit dem neuen Schuljahr starten zwei Schulversuche: in drei Schulklassen nehmen alle SchülerInnen am neuen Fach "Religionsgeschichte" teil, in drei weiteren müssen sie sich zwischen dem konfessionellen Religionsunterricht und dem neuen Fach entscheiden.

Mehr dazu: http://www.frei-denken.ch/de/2010/06/kt-ti-pilotversuch-mit-obligatorium-fur-geschichte-der-religionen/

Seit 2002 sind zwei parlamentarische Vorstösse hängig, die eine radikale Änderung der aktuellen Gesetzeslage fordern.

Vorgeschichte

Historische Hintergründe

Die Frage des Religionsunterrichtes an den öffentlichen Schulen war eine der politischen Hauptkontroversen im Kanton Tessin. Sie wiederspiegelt eine europaweite Auseinandersetzung, die einen guten Teils des 19. und 20. Jahrhunderts bewegte: den Konflikt zwischen den weltlichen Kräften, die den modernen Staat aufbauten und für die Anerkennung seiner Autorität kämpften, und der katholischen Kirche, die befürchtete, ihr vermeintlich zustehende Rechte zu verlieren. Die Debatte über das Thema Schule war dabei eine besonders heikle Angelegenheit. Einig war man sich darüber, dass die Schule einen massgebenden Einfluss auf das Denken und Handeln der zukünftigen Mitbürger habe. Auf der weltlichen Seite befürchtete man, dass die Kirche ihre Stellung in der Schule ausnützen würde, um – mehr oder weniger öffentlich – die Schüler gegen die Autorität des Staates aufzuhetzen. Auf der klerikalen Seite befürchtete man umgekehrt, dass jegliche staatliche Reglementierung auf diesem Gebiet auf die Sabotierung der kirchlichen Autorität ziele oder sogar häretische oder antichristliche Weltanschauungen zu verbreiten suche.

Tessiner Kompromiss Der Tessiner Kompromiss bestand darin, dass der Staat der kirchlichen Autorität in einer Art "Werkvertrag" die Erteilung des Religionsunterrichtes überliess und die Kirche im Gegenzug akzeptierte, dass die Schüler von diesem dispensiert werden konnten. Dabei gingen beide Seiten davon aus, dass die Teilname die Regel, und die Dispensation die Ausnahme bilden würden. Dieser Kompromiss hielt  bis ca. 1985.

Seit 1992: Anmeldung Nach langen Auseinandersetzungen kam man 1992 zur jetzigen Regelung, welche einerseits die Gleichstellung zwischen katholischem und evangelisch-reformiertem Unterricht eingeführt hat, und wo, an die Stelle Obligatoriums mit Dispensationsmöglichkeit eine Anmeldung zum Religionsunterricht trat. Vom alten System ist aber das Prinzip des "Werkvertrages" geblieben: der Staat stellt die Strukturen zu Verfügung und deckt die Kosten dieses Unterrichts, während die kirchliche Autorität (katholisch bzw. evangelisch-reformiert) die Programme bestimmt und die Lehrer ernennt, die im Besitz des Zertifikats zur Unterrichtserteilung sein müssen.

Teilnahme massiv rückgängig Seit dem Inkrafttreten dieser Regelung hat die Teilname am Religionsunterricht nun aber massiv abgenommen. Liegt in der Elementarstufe (1. bis 5. Klasse) die Teilnahme noch bei 75 - 80%, sinkt er auf der Mittelstufe auf wenig mehr als 50%. Während aber im 6.und 7. Schuljahr die Teilnahme nicht wesentlich von jener der Elementarstufe abweicht, fällt im 8. und 9. Schuljahr die Teilnahme unter 10%. Nach konkreten Beobachtungen hat man sogar den Eindruck, dass der tatsächliche Besuch des Unterrichts noch tiefer liegt als die offiziellen Einschreibungen.

Folgen der Migration In den letzten Jahren hat sich zudem auch die kulturelle Zusammensetzung der Schulklassen radikal geändert. Es gibt Klassen mit über 50% Kindern aus anderen Ethnien und Kulturen. Der Kanton Tessin hat einen Ausländeranteil von über 25% (Schweiz 20.7%).

Studie "Religion an der Schule" In den Jahren 2001-2002 liess die "Vereinigung für die öffentliche Schule des Kantons und den Gemeinden im Tessin" eine Studie über das religiöse Phänomen in der öffentlichen Schule erstellen. Ziel war es, obigem Trend Einhalt zu gebieten und durch die Ersetzung des fakultativen Religionsunterrichts durch die zwei Kirchen mit einem von dem Staate geführten obligatorischen Fach "Religiöse Kultur" die abendländliche Kultur zu retten: "zu viele Schüler beenden die öffentliche Schule ohne genügend Kenntnisse über die religiösen Aspekte unserer Kultur, ausserstande, grundsätzliche Teile der Fundamente unserer Zivilisation (den jüdisch-christliche Beitrag mit seinen dogmatischen, sozialen und künstlerischen Auslegungen) zu verstehen."

2 Parlamentarische Vorstösse Am  25. März 2002 reichte deshalb der Abgeordnete Paolo Dedini der Liberalsozialen Partei eine parlamentarische Initiative ein zur Ablösung des Art. 23 des Schulgesetzes (fakultativen katholischen und evangelisch reformierten Religionsunterricht) vom 1. Februar 1990 durch ein neues Gesetz, das ein staatlich geführtes obligatorisches Fach Geschichte der Religionen, der Ethik und der Philosophie vorsieht. Am 2. Dezember des gleichen Jahres reichte die Abgeordnete Laura Sadis von der Liberalen Partei – unterstützt von Abgeordneten anderer Parteien – ebenfalls eine parlamentarische Initiative ein, die praktisch die Thesen der Studie der Vereinigung für die öffentliche Schule übernimmt.

Kommission "Religionsunterricht in der Schule" In der Folge ernannte die Kantonsregierung am 5. Oktober 2004 eine 11-köpfige Spezialkommission bestehend aus: Vertretern des Schulwesens (2), der Katholischen Kirche (3), der Evangelisch-reformierten Kirche (2), der beiden Initiativen (je 1), und 2 weiteren Mitgliedern, darunter von der Sektion Tessin der FVS: Dr. Raffaele Pedrozzi.

Aus der Arbeit dieser Kommission sind drei Richtungen hervorgegangen – eine Mehrheitsrichtung und zwei Minderheitsrichtungen:

Die 2004 eingesetzte «Kommission über Religionsunterricht in der Schule» schloss ihre Arbeit am 13. Dezember 2005 ab. Eingereicht wurde ein Mehrheitsbericht und zwei Minderheitsberichte. Kurz vor den kantonalen Wahlen gab der Regierungsrat – ganz unerwartet – im Februar 2007 alle drei Berichte offiziell in die Vernehmlassung.

Mehrheitsbericht

Unterschrieben von 8 Mitgliedern: Elementarstufe: Einen obligatorischen Unterricht,  erteilt von der Klassenlehrkraft. Mittelstufe: Versuchsweise Einführung einer obligatorischen Stunde in den letzten zwei Jahren.

Gemischte Kommission Über Inhalt und Lehrmittel soll eine Kommission entscheiden, in der alle interessierten Parteien vertreten sein müssen: die Vertreter der anerkannten Kirchen, der übrigen im Kanton vorhandenen religiösen Gemeinschaften, der Vereinigung für die öffentliche Schule, der Freidenker-Vereinigung der Schweiz. Der fakultative konfessionelle Unterricht bleibt während den gesamten vier Jahren erhalten, wird aber ausserhalb des Programms und zu Lasten der Kirchen geführt. Der Staat stellt lediglich Räumlichkeiten und Infrastruktur zur Verfügung.

Oberstufe Die Einführung einer obligatorischen Stunde «Kultur der Religionen» ist u. a. wegen Überlastung des Stundenplans nicht vertretbar. Es wird vorgeschlagen: a) Integration des Themas Religion in die einzelnen obligatorischen Fächer: Geschichte, Geschichte der Sprache, der Literatur, der Kunst und der Philosophie. b) einen konfessionellen oder interkonfessionellen Unterricht ausserhalb des Stundenplans.

Bericht der Vertreter der Katholischen Kirche

Der von 3 Mitgliedern unterzeichnete Bericht kritisiert, dass der Kommissionsvorschlag auf eine klare Trennung zwischen Staat und Kirche hinauslaufe, wogegen laut Schulgesetz von 1992 die zwei anerkannten Kirchen (katholisch und ev.-reformiert) das Recht hätten, am gesamten Bildungsprojekt der Studierenden auf jeder Ebene mit einem eigenen spezifischen Fach mitzuarbeiten. Ihr Vorschlag: Elementarstufe: Beibehalten des status quo mit der Verpflichtung der verschiedenen Christlichen Kirchen (katholisch - evangelisch - orthodox) möglichst bald einen «im ökumenischem Sinne koordinierten Unterricht» zu erreichen. Mittelstufe: Beibehaltung des status quo, oder Einführung vom Staat geführter, paralleler und alternativen Kurse in religiöser Kultur. Oberstufe: Beibehaltung des status quo, oder – neben den von den Kirchen garantierten Kursen – über den Kommissionsvorschlag hinaus: grössere Integrierung des religiösen Diskurses in die anderen Fächer, grössere Flexibilität für den Kurs der komplementären Option «Religion» und für die Maturitätsarbeit sowie einen fakultativen Kurs über die «Geschichte der Religionen».

Bericht der Vertreter der FVS-Sektion Tessin

Der von 2 Mitgliedern unterzeichnete Bericht hält fest: Der Einbruch der Besucherzahlen zeigt, dass die heutigen Anordnungen betreffend den Religionsunterricht in der öffentlichen Schule nicht mehr zeitgemäss sind und in klarem Widerspruch stehen zum Fundament der modernen Demokratie, zur bedingungslosen Trennung von Staat und Kirche. Jeder Religionsunterricht, auf welcher Stufe auch immer er erteilt wird, sei es vom Generalisten oder Spezialisten, steht im Widerspruch zu Bundesverfassung (BV) und Zivilrecht (ZGB):

Art. 15 Abs. 4  BV Niemand darf gezwungen werden, einer Religionsgemeinschaft beizutreten oder anzugehören, eine religiöse Handlung vorzunehmen oder religiösem Unterricht zu folgen.

Art. 303 ZGB 1 Über die religiöse Erziehung verfügen die Eltern. 2 Ein Vertrag, der diese Befugnis beschränkt, ist ungültig. 3 Hat ein Kind das 16. Altersjahr zurückgelegt, so entscheidet es selbständig über sein religiöses Bekenntnis.

Art. 11  BV 1  Kinder und Jugendliche haben Anspruch auf besonderen Schutz ihrer Unversehrtheit und auf Förderung ihrer Entwicklung. 2 Sie üben ihre Rechte im Rahmen ihrer Urteilsfähigkeit aus.

Art. 8  Abs. 2 BV 1   Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich. 2  Niemand darf diskriminiert werden, namentlich nicht wegen der Herkunft, der Rasse, des Geschlechts, des Alters, der Sprache, der sozialen Stellung, der Lebensform, der religiösen, weltanschaulichen oder politischen Überzeugung oder wegen einer körperlichen, geistigen oder psychischen Behinderung.

Die ASLP-TI begrüsst die zwei parlamentarischen Initiativen insofern, als diese die gegenwärtige Diskussion eröffnet haben. Die Freidenker wünschen aber im Gegensatz zu den beiden Initiativen die Integration verstärken:

  • Volle Integration der Geschichte der Religionen und der areligiösen Strömungen in den allgemeinen Unterricht.

Das Phänomen erfordert keine spezifische und separate Behandlung. Im Gegenteil, Letztere könnte sich als inopportun und voller negativen Konsequenzen herausstellen: Wem soll zum Beispiel der Unterricht anvertraut werden? Wer soll die Kontrollen sicherstellen? Die Schule soll mit gut strukturierten Programmen im Bereich der humanistischen Kultur allgemeine Kenntnisse über Geschichte, Geographie, Literatur, Philosophie anbieten, die es erlauben, die generellen Zusammenhänge – samt Einflüssen von den diversen religiösen und nicht religiösen Weltanschauungen – zu erfassen. Die Entwicklung der Kritikfähigkeit bildet einen fundamentalen Bestandteil der Bildung des Menschen.

  • Aufgaben der öffentlichen Schule

1. Die Schüler zum kritischen und rationalen Prüfen der physischen, psychologischen und sozialen Phänomene befähigen. 2. Die unersetzbare Rolle der Vernunft und der Wissenschaft im Fortschritt der Menschheit begreiflich  machen. 3. Die Schüler daran gewöhnen, keine Behauptung zu akzeptieren, wenn nicht gute Gründe bestehen sie für wahr zu halten. 4. Die Neugier und das Interesse an Wissenschaft fördern. Aus diesen Gründen verlangt die Sektion Tessin der Freidenker-Vereinigung der Schweiz die

  • Aufhebung des Art. 23 des Schulgesetzes vom 1. Februar 1990

Dadurch entstehen folgende Vorteile für alle Komponenten der zivilen Gesellschaft und der Schule: a)  Die Achtung des grundlegenden Prinzips des demokratischen Staates: Trennung von Staat und Kirche. b)  Die Achtung der Bundesverfassung und der Gesetzen des Staates. c)  Keine zusätzliche Belastung des schon überlasteten Stundenplans. d)  Keine zusätzlichen Kosten. e)  Ein Ersparnis von mindestens Fr. 2.000.000.- Quellen: Opinione Liberale vom  4.10.2007

Associazione per la scuola pubblica del cantone e dei comuni in Ticino. Rapporto "L’approccio al fenomeno religioso nella scuola pubblica" http://www.castalia.ch/asp/ unter: "Cultura religiosa"

Dipartimento dell'educazione, della cultura e dello sport - DECS Rapporto finale della Commissione sull'insegnamento religioso nella scuola http://www.ti.ch/decs/temi/stampa/070205_InsegnamentoReligioso.asp

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