"Wenn Gott junge Lehrer rekrutiert"

Berner Zeitung

15 Prozent der angehenden Lehrer in Bern verfügen über «absolute Glaubensgewissheit». Aber längst nicht alle tun sich schwer damit, Werte zu vermitteln, die ihren Einstellungen zuwiderlaufen. Das zeigt eine Nationalfondsstudie. http://www.bernerzeitung.ch/schweiz/standard/Wenn-Gott-junge-Lehrer-rekrutiert/story/14389090

Auszüge aus dem Schlussbericht

Der wenig bestimmte „Glaube an eine höhere Macht" ist unter Studierenden an der PHBern die dominante Glaubenseinstellung (40.2%). Andere Einstellungsgruppen weisen alle Anteile bei etwa 15% auf – so auch die Gruppe der Studierenden mit „absoluter Glaubensgewissheit“. Studierende, die für sich absolute Glaubensgewissheit beanspruchen, sind mehrheitlich evangelisch-reformiert und freikirchlich engagiert. Am Privaten Institut NMS, das der PHBern angegliedert ist und das auf eine christlich-pietistische Tradition aufbaut, beträgt der Anteil Studierender mit „absoluter Glaubensgewissheit“ 33.9%. Dezidiert gläubige Studierende wurden mehrheitlich bereits religiös – meist evangelisch-reformiert – erzogen und wuchsen in einem religiösen Milieu auf. Sie besuchten mit ihren Eltern Gottesdienste und lernten Glaubenspraktiken von klein auf kennen. Bei den Studierenden mit Glaubensgewissheit handelt es sich in der Regel nicht um „Neugläubige“ oder konvertierte Gläubige.

Auseinandersetzungen um Deutungsmacht über den Lehrberuf Die Studie stellt fest, dass es an der Hochschule einen latent ausgefochtene Auseinandersetzung um Deutungsmacht über das Ausbildungs- und Berufsfeld gibt. Im Mittelpunkt der Kontroverse stehen unterschiedliche Sichtweisen auf die Professionalisierung des Lehrberufs. Besonders der Anspruch der Lehrerinnen- und Lehrerbildung an der Hochschule, dass wissenschaftliche Reflexivität Grundlage des professionellen Habitus von Lehrpersonen zu sein hat, ist Gegenstand ständiger Auseinandersetzungen. Die kontroversen Positionen an der PHBern lassen sich folgendermassen charakterisieren: Aus einer an den Sozial- und  Erziehungswissenschaften orientierten Position wird ausgehend von den oben dargestellten Professionalisierungstheorien unter Reflexivität in erster Linie die Fähigkeit zur analytischen Distanzierung von normativen Grundannahmen, die an Bildungsprozesse geknüpft sind, und von deren Sicherheitsversprechen verstanden. Vorausgesetzt wird, dass diese Fähigkeit mit den Studierenden so eingeübt wird, dass reflexiv-analytisches Hinterfragen auch der eigenen Standpunkte für die zukünftigen Lehrpersonen zur Routine wird. Die Gegenposition dazu orientiert sich an Theologie und Pädagogik und damit an Grundlagen, welche die seminaristische Lehrerinnen- und Lehrerausbildung prägten. Diese Position stellt die „Lehrerpersönlichkeit“ ins Zentrum des Lehrberufs, wissenschaftliche Reflexivität wird mit Praxisferne und intellektueller Arroganz gleichgesetzt. Behauptet wird, Reflexivität sei zu einem Dogma für die tertiarisierte Lehrerinnen- und Lehrerbildung geworden, welches dazu diene, fehlendes praktisches Handeln zu rechtfertigen.

Typische Konflikte in reflexiven Modernisierungsprozessen Die Studie kommt weiter zum Schluss, dass das geschilderte Konkurrenzverhältnis zwischen den unterschiedlichen Sichtweisen auf das Ausbildungs- und Berufsfeld an der PHBern nicht darauf zurückgeführt werden kann, dass religiöse Denkmuster in der Lehrerinnen- und Lehrerbildung noch nicht verschwunden sind. Es zeugt vielmehr von typischen Konflikten und Spannungsfeldern reflexiver Modernisierungsprozesse.

Fünf Typen, davon 2 Typen von religiösen Studierenden

Die Studie unterscheidet zwischen

1. Studierenden aus traditionell freikirchlichem Milieu, die in der Glaubensgemeinschaft emotionalen Halt und Richtlinien für die Lebensgestaltung finden, diese sind wertkonservativ. Der Lehrberuf ist für die Studierenden dieses Typus ein Wunschberuf, zu dem sie über die gymnasiale oder Berufsmatur gelangten. Er stellt einen sozialen Aufstieg in Bezug auf das Herkunftsmilieu dar. Für sie stellt die Ausbildung eine kontinuierliche Herausforderung dar. Als zukünftige Lehrpersonen müssen sie einerseits Werte vermitteln, die ihren Einstellungen zuwiderlaufen, und andererseits den Kindern wissenschaftliche Theorien wie etwa die Evolutionstheorie zugänglich machen, die sich mit ihrem Glauben nicht vereinbaren lassen. Dies stellt sie immer wieder vor Dilemmata. Studierende dieses Typus lassen sich jedoch auf die stete Verunsicherung ein, sie diskutieren ihre Widersprüche mit Dozierenden und Mitstudierenden und setzen sich intensiv mit Lehrmitteln auseinander. Im Rückgriff auf diese sehen sie die Möglichkeit, sich als Lehrpersonen auf jenes Wissen einzulassen, dessen Grundannahmen sie nicht teilen. Sie nehmen also reflexiv Distanz zu ihrem Glauben. Die Studierenden des ersten Typus nehmen also den Anspruch auf wissenschaftliche Reflexivität, welche Gewissheiten kritisch befragt, in der Ausbildung als selbstverständlich an.

2. Studierende mit jugendkulturellen Lifstyle Sie nehmen an religiösen Grossveranstaltungen und an Gottesdiensten, die Rockkonzerten gleichen, teil, als auch an Zusammenkünften zum gemeinsamen Austausch (Bibelstudium, Beten) im intimen Rahmen von Hauskreisen teil.  Sie profilieren sich ferner in den Bibelgruppen an der PHBern. Im Gegensatz zum ersten Typus beanspruchen die streng gläubigen Studierenden des zweiten Typus offensiv Gewissheit für sich und setzen auf „Rezeptwissen“ und Intuition. Reflexionslernen in der Ausbildung, das Gewissheiten kritisch hinterfragt, sehen sie als Zumutung und als unnütz an. Ihr Berufsleitbild kann in Anlehnung an Max Webers Charisma-Begriff als ‚charismatischer Meister‘ und charismatische Meisterin‘ gefasst werden. Anders als bei Typus 1 stellt bei Typus 2 Charisma den Kern des Lehrberufs dar. Dabei ist eine Geschlechterspezifik auszumachen: Während in der männlichen Version Charisma mit väterlicher Autorität gleichgesetzt ist und der Anspruch auf charismatische Führung anklingt, ist in der weiblichen Version das Ideal charismatischer Mutterliebe zu erkennen. Auch die Studierenden des zweiten Typus wissen, dass sie als Lehrperson zur Neutralität verpflichtet sind, der Anspruch, Zeugnis abzulegen und ihrem Glauben über die zukünftige Berufstätigkeit Ausdruck zu verleihen, hat aber einen hohen Stellenwert für sie.

3. Agnostische Studierende Sie erachten es als müssig, sich mit der Frage nach der Existenz Gottes zu beschäftigen, da eine Beweisführung unmöglich sei. Sie lassen das, was experimentell nicht überprüfbar, bzw. widerlegbar ist, offen und wollen sich weder darauf festlegen, dass Gott existiert, noch, dass es keinen Gott gibt. Diese Haltung weist auf eine säkulare, wissenschaftlich-rationale  Welterklärung hin (vgl. dazu Pollak et al. 2003). Der Lehrberuf ist  für diese Studierenden kein Wunschberuf, sie erwarten von ihm in erster Linie materielle Absicherung, Status und genügend Freizeit, um anderen Interessen nachgehen zu können. Sie  betonen, dass der Lehrberuf für sie keine Berufung ist, sondern ein „Job“, der wie jeder andere vom Privatleben und persönlichen Überzeugungen strikt zu trennen sei.sieht in der Tertiarisierung der Lehrerinnen- und Lehrerbildung eine Chance dafür, dass sich der Status des Lehrberufs erhöht. Die Herausforderung, die sich ihm in diesem Zusammenhang stellt, ist, wie es gelingt, sich als Lehrperson nicht nur als ‚natürliche‘ sondern auch  als „berechtigte Autorität“ zu positionieren. In seiner Argumentation wird der Lehrberuf mit einem technischen Beruf gleichgesetzt und Autorität mit technischem Wissen.

4. Selbstverwirklichende Spirituelle Diese Studierenden haben eine an verschiedene religiöse oder philosophische Bezüge anknüpfende Vorstellung von einer höheren Macht. betonen explizit, dass sie nach einer „eigenen Spiritualität“ leben. Zentrum ihres privaten Sinnsystems ist die Natur, die als „Kraftquelle“ betrachtet wird. In der Naturerfahrung, die sie als Innehalten in der Natur und als bewusste und achtsame Wahrnehmung von Naturphänomenen beschreiben, sehen diese Studierenden einen Weg zur Selbstfindung. Sie suchen darin nicht eine Verbindung mit einer Schöpferkraft, sondern vielmehr das „Tanken von Energien“. Der Respekt für die Natur ist somit gleichbedeutend mit Selbsterhaltung und Selbstverantwortlichkeit. Für diese Studierenden stellen die Jugendlichen, die sie unterrichten eine Energiequelle dar.

5. Emanzipierende Studierende mit Migrationshintergrund , die in einer anderen als der christlichen Religion sozialisiert wurden. Sie wurden entweder in der Schweiz geboren und stammen aus einem etablierten Gastarbeitermilieu oder sie gehören einem neuen, unterschichtenden Migrationsmilieu an und kamen als Kind durch Familiennachzug in die Schweiz. Sie bezeichnen ihre Eltern, die einer nicht christlichen Religionsgemeinschaft angehören, als religiös, jedoch nicht in jedem Fall als praktizierend. Die Studierenden dieses Typus glauben zwar an einen Schöpfergott oder an „irgendeine göttliche Macht“, aber ihr Glaube ist von Zweifeln begleitet. Die Argumentation der Studierenden des Typus 5 lässt darauf schliessen, dass Religiosität in ihrem Herkunftsmilieu die Bedeutung von Ethnizität hat, wird sie doch gleichgesetzt mit religiösem Brauchtum. Für die Studierenden des fünften Typus, die aus einem Gastarbeitermilieu stammen, ist die Wahl des Lehrberufs eine Entscheidung gegen die Leistungsethik und Aufstiegsorientierung der Eltern. Sie wählen diesen Beruf, weil sie nach der gymnasialen Matur dem elterlichen Druck nicht standhalten können oder wollen, ein Universitätsstudium in Fächern wie Medizin, Recht oder Wirtschaft, die als Prestigefächer gelten, zu absolvieren.

Verszenung der Religion  wirkt als subversive Kraft Die Studie kommt zum Schluss, dass Religion und die religiöse Vergemeinschaftung für die Studierenden des zweiten Typus dieselbe Funktion hat, wie links-autonome politische Ideologien und damit verbundene Vergemeinschaftungsformen für Studierende in den 1980er und frühen 1990er Jahren, als die 80er- Jugendbewegung auch die Hochschulen ergriff.

Vertreter der neuen männlichen „Autoritätstypen“? Die Studierenden des dritten Typus treten den an der PHBern offensiv auftretenden evangelikalen Studierenden des zweiten Typus aktiv entgegen. Sie sprechen ihnen die Eignung für den Lehrberuf ab und werfen ihnen fehlende Eigenverantwortung und einen Missionierungsanspruch vor.  Die Studie sieht die beiden Typen als Herausforderung an die Lehrerbildunsinstitute und fragt: Entsprechen Typus 2 und 3 den neuen männlichen „Autoritätstypen“, die in der öffentlichen Debatte für den Lehrberuf eingefordert werden? Stünde jener aus dem evangelikalen Lager dann für die Verlierer und Verliererinnen des Bildungssystems ein und jener aus dem technokratischen Lager für dessen Gewinnerinnen und Gewinner? Die Studie wirft weitere offene Fragen zur Zukunft der Lehrerinnen- und Lehrerbildung auf: Der Lehrberuf ist ein feminisierter Beruf, ist die hedonistische Orientierung, die sowohl die technische Rationalität des einen Lagers, als auch die evangelikale Dogmatik des anderen Lagers durchdringt und vor allem unter weiblichen Studierenden identifiziert werden konnte, geschlechtsspezifisch zu erklären? Welchen Stellenwert hat ‚Reflexionslernen‘, wenn sich ein Teil der ‚reflektierten Praktikerinnen‘ und ‚reflektierten Praktiker‘ aus dem Beruf zu stehlen gedenkt, sobald Selbstverwirklichung aufgrund der Klientel nicht mehr gelingt, wie Typus 4 vor Augen führt? Wird die Zukunft die Lehrerinnen- und Lehrerbildung durch die Emanzipationsorientierung der Studierenden mit Migrationshintergrund beeinflusst sein, die an die Bildungsreformära der 1970er Jahre erinnert, als der Beitrag zur Gesellschaftsveränderung Programm für die Lehrtätigkeit war?  Sind die ‚reflektiertesten Praktikerinnen‘ und ‚reflektiertesten Praktiker‘ letztlich die Glaubensgewissen des Typus 1, weil sie am stärksten unter Legitimationsdruck stehen und sich deshalb am ausgeprägtesten um reflexive Distanzierung bemühen? All diese Fragen zeigen, dass die Debatten, Auseinandersetzungen und  Abgrenzungskämpfe im Hinblick auf die Deutungsmacht über das Ausbildungs- und Berufsfeld an der PHBern weitergehen werden. Wenn sie ein Ausdruck der steten kritischen Befragung von Gewissheitsfiktionen wären, dann würden sie für den (selbst)reflexiven Bildungsprozess dieser Bildungsinstitution stehen.

http://www.nfp58.ch/d_projekte_institutionen.cfm?projekt=108

Reaktionen

Nationalrat Peter Malama (FDP BS): «Wer Lehrer werden will, muss die Religionsfreiheit in unserer Verfassung anerkennen. Wer nicht in der Lage ist, alle Ansichten darzustellen, hat an der PH nichts verloren.» Malama fordert deshalb entsprechende Abklärungen vor Studienbeginn. An der PH Bern sieht man keinen Handlungsbedarf: «Wir schauen aktiv hin. Neu ist die Situation aber nicht», so Rektor Martin Schäfer. An der PH Zürich geht man weiter: «Wir erwarten Weltoffenheit und Flexibilität. Ansonsten stellt sich für uns die Frage der Eignung», so Walter Bircher. Missionieren Studierende in ihren Praktika, kann es zum Ausschluss kommen. http://www.20min.ch/news/kreuz_und_quer/story/Wirbel-um-strengglaeubige-Paedagogen-16753039

Die Vereinigten Bibelgruppen kritisieren die Studie als teilweise irreführend und stigmatisierend. Sie weisen darauf hin, dass sich seit Sommer 2010 an der Uni keine Bibelgruppe mehr regelmässig trifft. http://www.evbg.ch/die-vbg/ressourcen/ressourcen/ressarticle/vbg-kritisiert-stigmatisierung.html